Tochter des Windes - Roman
schmunzelte.
»Vielleicht kommt es noch so weit.«
»Nein. Nicht solange ich hier wohne.«
Sie legte die Stirn in Falten, was sie seltsamerweise jünger machte und nicht älter.
»Das ist es ja eben. Der Geist erscheint dir, weil du an Ort und Stelle bist.«
Ich schüttelte entschieden den Kopf.
»Ich konnte alles Mögliche sein, aber kein Medium. Ich habe einfach kein Talent dazu.«
»Woher willst du das wissen?«, fragte Mia.
»Tja, so genau weià ich das auch nicht«, gab ich zu. »Hatte Tante Azai noch mehr solche ⦠ähm ⦠Visionen?«
Mia sah mich mit ernstem Gesichtsausdruck an.
»Sie hatte welche. Und ich könnte mir vorstellen, dass ihr dabei ziemlich unheimlich zumute gewesen ist.«
Einige Jahre lang geschah nichts, worüber ich berichten könnte. Ich besuchte ein Mädchengymnasium, das in dem Ruf stand, eine der fortschrittlichsten Schulen in ganz Japan zu sein. Dort hatte man uns verschiedene Fächer
beigebracht, die eigentlich Knaben vorbehalten waren: Mathematik, Physik, Naturwissenschaft. Wir hatten sogar Gymnastikstunden. Am Ende meiner Schulzeit stellte Mutter fest, dass ich viel zu wenig Wissen über die weiblichen Fertigkeiten und die gesellschaftliche Etikette erworben hatte. Das Leben bei uns zu Hause war nicht sehr zeremoniell, und für mich waren diese Dinge unbedeutend. Doch Mutter war besorgt, fehlte es mir doch an mancher Unterweisung, die für mein Leben als zukünftige Ehefrau notwendig war. Und so verbrachte ich  â rückblickend betrachtet  â in einem konventionellen Mädcheninstitut eine recht nutzlose Zeit, die ich allerdings kompensierte, indem ich Vater in der Praxis half. Zunächst war ich nur Sprechstundenhilfe, dann zog mich Vater auch heran, wenn er Verletzungen pflegte oder Kranke untersuchte. Frauen, vor allem wenn sie älter waren, schätzten eine weibliche Präsenz im Sprechzimmer. Ich mochte diese Aufgabe von Anfang an gern und zeigte mich auch recht geschickt, wenn es galt, Verbandzeug zu wechseln oder eine Spritze zu geben. Vater lobte mich nicht  â das war nicht seine Art  â, doch er übergab mir nach und nach gröÃere Verantwortung. Aber trotz meiner wachsenden Zufriedenheit gab es in diesem Sommer 1923 etwas, das mich in Unruhe versetzte. Es war eine auÃergewöhnlich heiÃe, stickige Jahreszeit. Ich wurde von solchen Kopfschmerzen geplagt, dass ich mich fragte, ob ich ernstlich erkrankt sei. Als die Schmerzen im August immer stärker wurden, bat ich Vater um ein Mittel. Er gab mir Tabletten, die ein wenig halfen, mich aber beduselt machten. Ich hatte ein ungewöhnlich starkes Schlafbedürfnis, ging zwar meinen Aufgaben nach, aber mein Geist war träge, und manchmal schien mir, als würden die Tage nicht enden. Wenn die Nacht kam, lag ich dennoch wach und zählte die Stunden. Doch kein Mensch kann lange ohne
Schlaf auskommen. Um Vater nicht noch mehr zu beunruhigen, griff ich eigenhändig zu den Tabletten. Wahrscheinlich nahm ich eine zu viel, denn kaum hatte ich mich zur Ruhe gelegt, fiel ich in den Schlaf wie in eine Ohnmacht. Und in diesem Zustand träumte ich wieder von der Frau. Sie hatte mich seit Jahren nicht mehr heimgesucht, ich hatte sie schon fast vergessen. Doch nun, in den frühen Stunden vor Morgengrauen, erschien sie mir. Sie schwebte vor dem Fenster, mir war, als ob ihre scharf umrissene Gestalt die Sterne verdunkelte. Sie hielt eine brennende Fackel in der Hand und bewegte sich auf seltsame Art, als ob sie tanzte. Aber es war kein Tanz. Sie drehte sich nur leicht von einer Seite zur anderen, wobei sie mit ihrer Fackel in die vier Himmelsrichtungen wies. Auf einmal warf sie die Fackel hoch über ihren Kopf. Da schien es mir, dass der Himmel selbst in Flammen aufging. Das Feuer verbarg auch die Frau, sie war bis zu den Augen hinauf in das grelle Leuchten getaucht. Ich sah, wie sich ihr schönes Gesicht auf unheimliche Art zusammenzog und dehnte. Es schmolz, als sei es aus Wachs, und am Ende blieben nur noch die Augen bestehen, die schwarz und leicht schwankend in der Luft hingen und mich anstarrten, bis ich schlagartig erwachte. Ich war am ganzen Körper klamm, und mir war übel. Der Traum erschreckte mich derart, dass ich nicht mehr einschlafen konnte. Der Tag brach an, wir hörten die Hähne krähen. Und uns fiel auf, dass sämtliche Hunde in der Nachbarschaft
Weitere Kostenlose Bücher