Tochter des Windes - Roman
Ich streichelte sie mit der Fingerspitze.
»Worüber würdest du schreiben?«, fragte sie.
Ich trug eine groÃe Ladung von Träumen mit mir herum. Und es gab eben doch ein paar Höhepunkte in meinem Leben. Mir schien, dass für mich der Augenblick gekommen war, es jemandem zu sagen. Und vielleicht konnte Mia über das, was ich tun wollte, besser urteilen als zum Beispiel ich selbst. Ich erzählte also, dass ich nach dem Gymnasium zwei Semester lang Medizin studiert hatte. Neurologie, um genau zu sein. Ich hatte das Studium abgebrochen, hatte mir irgendwann eingeredet, dass ich für die Sache nicht taugte. Das war wohl eine Frage der Geduld gewesen, und Geduld hatte ich nicht gehabt, damals. Kenntnisse waren nicht so einfach zu erhalten, wie ich es bisher geglaubt hatte. Sie fielen jedenfalls nicht vom Himmel. Aber da ich mich zwangsläufig mit dem Gehirn befasst hatte, war in mir eine bisher ungelöste Kernfrage aufgetaucht. Eine sehr simple Frage übrigens: »Wie entsteht ein Genie?«
Ich sprach jetzt diese Frage laut aus, machte danach eine dramatische Pause. Mia hielt die Augen weit offen.
»Ja, und wie entsteht es?«
Das Gefühl, dass sie zuhörte, war unbezahlbar. Ich blühte regelrecht auf.
»Siehst du, an GröÃe und Umfang des Gehirns kann es nicht liegen, auch nicht an dem erlernten Wissen. Geniale Menschen haben etwas von Geburt an, was die anderen nicht haben. Etwas Unbegreifliches. Aber was genau?«
»Dann lass uns mal darüber nachdenken«, sagte Mia.
Worauf ich ihr von Michelangelo Buonarotti erzählte und in eruptive Redseligkeit verfiel, angesichts einer nackten Frau im Bett ein absolutes No-Go.
»Selbst mit der subtilsten Methode kann man nicht den geringsten Unterschied zwischen der Hirnstruktur eines Stephen Hawking und beispielsweise der eines Bauern aus Anatolien feststellen. Die Kurven einer Enzephalografie, wenn man die Hirnwellen eines Schachspielers, eines Mathematikers oder eines Lyrikers bei der geistigen Tätigkeit aufzeichnet, sind so gut wie identisch â¦Â«
Das Problem war, dass ich die Maschine aufgedreht hatte und nicht aufhören konnte. Ich dozierte wie im Hörsaal, im Hochgefühl, dass Mia ganz Ohr war. Sie wirkte leicht verwirrt, und plötzlich kam ich mir unausstehlich vor. Doch sie sagte nicht: »Halt den Mund, lass uns vögeln.« Sie starrte mich an und wartete, dass ich weitersprach. Und da war noch eine Sache, die ich nicht jedem Beliebigen sagen konnte, sie war nämlich politisch nicht korrekt.
»Für eine Genie-Entstehung muss es biologisch-genetische Hintergründe geben. Eine Erbanlage. Und ich denke, man sollte die Ahnenforschung mit einbeziehen. Es könnte eine Fähigkeit geben, die sich von einer Generation zur nächsten verfeinert, bis sie plötzlich zum Ausbruch kommt. Als ob das Gehirn Funken fängt. Aber woran liegt das?«
Mia nickte mir abwartend zu.
»Ja, woran liegt es?«
»Wie bitte?«, stammelte ich, leicht überrumpelt.
»Woran liegt es?«, wiederholte Mia, leicht ungeduldig. »Erklär mir das mal!«
Ich lieà mich vor Verblüffung ins Kissen zurückfallen.
»Findest du das nicht absurd?«
»Keineswegs. Du solltest darüber schreiben. Ich finde das interessant.«
Auf einmal fühlte ich mich überfordert.
»Aber â¦Â«, stammelte ich, »ob es auch die Leser interessiert?«
»Das ist eine andere Frage«, meinte sie.
»Vielleicht habe ich einen Knacks, und es wird ein schlechtes Buch«, lamentierte ich.
Mia lag da, die Hand in den Nacken gestützt, und zwischen ihren flaumigen Brauen zeigte sich eine kleine Falte.
»Wie kommst du darauf, dass es ein schlechtes Buch sein könnte?«
Sie wusste gar nicht, was sie mit diesen Worten bei mir anrichtete.
»Das ist es ja gerade! Es soll kein didaktisches Buch werden, nicht verklärt, nicht abgehoben und nicht verstaubt. Ich will, dass die Leute es wie einen Krimi lesen.«
Sie nickte.
»Das werden sie auch.«
Ich sah sie perplex an.
»Alle?«
»Vielleicht nicht alle. Einige vielleicht nicht.«
»Und was werden diese da glauben?«
»Nichts. Sie werden das Buch ja nicht lesen.«
Ich wusste nicht, woran ich mit ihr war. Ich hatte das unbestimmte Gefühl, dass sie mich neckte. Doch ich täuschte mich. Sie war dabei zu überlegen.
»Das geschieht doch sehr häufig«, meinte sie,
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