Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tochter des Windes - Roman

Tochter des Windes - Roman

Titel: Tochter des Windes - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
Vom Netzwerk:
»dass man sich Gedanken über die Ahnen macht. Mir kam es schon immer spannend vor, wenn Tante Azai mir Erlebnisse von früher erzählte, die alle ziemlich haarsträubend waren.«
    Â»Inwiefern haarsträubend?«, fragte ich.
    Sie lachte ein wenig.
    Â»Vielleicht erzähle ich sie dir mal. Sie würden dich interessieren.«

    Â»Im Rahmen meiner Forschungsarbeiten?«
    Sie blinzelte mir zu.
    Â»Tatsächlich wäre Tante Azai ein gutes Studienobjekt.«
    Â»Wieso?«
    Â»Weil sie im Januar hundertacht Jahre alt wurde.«
    Mir fiel fast die Kinnlade herunter. »Hundertacht Jahre! Ist sie noch … äh … bei Verstand?«
    Â»Oh ja, das ist ja gerade das Schreckliche an ihr! Sie sitzt den ganzen Tag nur da, schläft oder schimpft. Natürlich wurde ihr Geburtstag gebührend gefeiert, die Stadtverwaltung schickte Glückwünsche. Ja, sogar Presse und Fernsehen waren anwesend. Hundertacht ist eine heilige Zahl, die für die Buddhisten die Vollendung eines Zyklus bedeutet. Tante Azai hatte zum Glück Sake getrunken …«
    Â»Zum Glück?«
    Â»Ja, das hat sie milde gestimmt. Ich würde eher sagen, beduselt gemacht. Sonst hätte sie alle in die Flucht geschlagen.«
    Â»Du liebe Zeit!«
    Â»Sie ist absolut unmöglich«, sagte Mia kopfschüttelnd.
    Â»Das wäre ja für mich ein Grund, nach Japan zu kommen«, meinte ich, halb im Spaß, halb im Ernst. »Solange deine Tante noch da ist.«
    Â»Mach dir keine Gedanken, sie ist unsterblich. Sie sagt, das käme nur daher, dass sie so viel Schokolade isst.«
    Â»Himmel! Wie viel denn?«
    Â»Zwei Pfund in der Woche, hat mir die Pflegerin gesagt.«
    Ich fing an zu lachen, und Mia lachte auch. Dann wurde sie wieder nachdenklich.
    Â»Ãœbrigens ist es diese Tante Azai, die Jan Letzel gekannt hat. Mich interessierte die Geschichte schon immer. Aber sie will nicht darüber reden. Sobald ich auf das Thema komme, auch nur andeutungsweise, fährt sie mir über den Mund.«

    Â»Aber, meine Güte, warum denn bloß?«
    Mia zog die Schultern hoch.
    Â»Kein Mensch wird schlau aus ihr. Sag mal, warum hast du dein Buch nicht früher geschrieben?«
    Ja, warum eigentlich nicht? Ich konnte nicht sehr stolz auf mich sein.
    Â»Was mich interessierte, interessierte niemanden. Außerdem hatte ich mein tägliches Pensum. Darüber hinaus wollte ich meinen Kopf nicht gebrauchen. Ich ging lieber joggen.«
    Â»Das ist sehr schade«, meinte Mia. Und setzte gleich hinzu: »Weil du dabei unglücklich warst.«
    Da hatte sie den Nagel auf den Kopf getroffen. Und wem konnte ich die Schuld geben? Doch nur mir selbst.
    Â»Mir fehlte es an Ehrgeiz«, gestand ich.
    Sie zeigte ein kleines Lächeln.
    Â»Bist du deswegen zum Nörgler geworden?«
    Ich seufzte.
    Â»Das kann ich wohl bestätigen.«
    Â»Wenn du glaubst, dass du ein Nörgler bist«, sagte Mia, »dann kannst du beruhigt sein. Du bist es nämlich nur ein ganz klein wenig …«
    Ich sah sie schuldbewusst an.
    Â»Lässt sich das noch ändern?«
    Â»Im Handumdrehen.«
    Sie lächelte mit dieser umwerfenden Mischung aus Zärtlichkeit und Spott. Etwas sehr Kluges, sehr Sachliches lag in ihrem Blick. Eine Sachlichkeit, die in starkem Gegensatz zu der verspielten Geste stand, mit der sie über mein Gesicht strich. Ich kam noch immer nicht über das Wunder unserer Begegnung hinweg. Diese Frau war dabei, mich zu retten. Irgendwann stießen wir alle an die Grenze unserer Unfähigkeit (das Peter-Prinzip?), aber vielleicht gab es doch eine Chance, noch ein paar Schritte darüber hinaus ins Wagemutige
zu tun. Das wollte ich jetzt mal versuchen. Ein radikaler Abmarsch ohne Garantie auf eine Rückkehr.
    Ich streichelte Mias Wimpern mit der Fingerkuppe.
    Â»Bücher kann man überall auf der Welt schreiben, meinetwegen auch in Japan. Ja, vielleicht wäre Japan sogar der richtige Ort für so ein Buch.  – Wenn ich dir nicht zur Last falle«, setzte ich hinzu.
    Sie schwieg. Das Schweigen stand zwischen uns, und ich hörte es nahezu vibrieren, bevor sie langsam erwiderte: »Ich habe genug zu tun, sodass du mir nicht zur Last fallen wirst.«
    Für mich hörte es sich wie eine Liebeserklärung an. Ich legte den Arm um sie, zog sie fest an mich.
    Â»Ich werde dich in Ruhe lassen und zunächst im Hotel wohnen. Und mir dann so schnell wie

Weitere Kostenlose Bücher