Tochter des Windes - Roman
verkümmert. Meine Wohnung, mein Wagen, meine Katze (ach, Mafalda!), meine Frau, mein Sex. Es lieà sich beliebig fortsetzen. Jemand hatte mal gesagt, die glücklichste Zeit im Leben eines Menschen sei die Zeit, in der er sich bemüht, das zu erreichen, was im Rahmen seiner Fähigkeiten liegt. Ich nahm sehr ernstlich an, dass ich welche besaÃ, die noch nicht zum Ausdruck gekommen waren.
Inzwischen informierte ich mich über Japan. Das Informieren war wie ein Vorgeschmack  â ein Vorspiel? Doch leider kam nicht viel dabei heraus. Ich stellte fest, dass es den meisten Sachverständigen offenbar schwerfiel, unparteiisch über das Land und seine Bevölkerung zu schreiben; dabei waren alle in gleicher Weise überzeugt, dass sie Japan kulturell und geistig nahegekommen waren. Aufmerksam und kritisch, wie ich veranlagt war, wunderte ich mich über die vielen Diskrepanzen, die bei der Beschreibung der gleichen kulturellen Vorgänge zum Vorschein kamen. Unglaublich, wie viele Menschen zwar das Gleiche sahen, es jedoch anders deuteten. Diese Unvereinbarkeit der Blicke und der Empfindungen fand ich eigenartig. Es war, als ob Japan nicht nur in einer anderen Sprache, sondern auch in unvertrauten Bildern zu dem Betrachter sprach. Dabei hatte ich das eigenartige Gefühl, dass die Stimmen und die Herzen aus den alten Sagen und versunkenen Welten zu mir herüberklangen, ein Gleichsein, das ein Verschiedensein war, als ob unsere Kulturen sich asymmetrisch entwickelt hätten. Es war eine Art von Gleich- und Verschiedensein wie bei einem Bild, das wir in einem Zerrspiegel betrachteten. Die Einzelheiten, die wir erkannten, kamen uns in ihrer Aussage
unbegreiflich vor. Am Ende gab ich es auf, stellte alle Reiseführer schön ordentlich in ein Bücherregal und konsultierte auch nicht mehr das Internet. Basta mit dem Zeug! Was blieb und was ich zulieÃ, war dieses Bedürfnis nach einer Erneuerung, nach etwas, das mir unter die Haut ging. Ich war auf der Suche nach dem eigenen Selbst. Es mochte ja sein, dass ich mich in Japan endlich finden würde. Dass ich mich bei dieser Suche auch verlieren konnte, nahm ich in Kauf. Gewinn und Verlust hielten sich im fairen Gleichgewicht.
Â
Die Scheidung also. Sie verlief wider Erwarten freundlich. Tanja war nicht alleine gekommen, sie hatte schon wieder einen Fisch an der Angelschnur. Ein guter Fang, wie mir schien: groÃ, mit einem markanten Gesicht und dem kühlen Blick jener, die es geschafft haben. Der Händedruck war fest, das Lächeln entgegenkommend, die ausgeprägte Kinnlade allerdings lieà ahnen, dass Tanjas Begleiter schon härtere Nüsse als meine Wenigkeit geknackt hatte. Er strotzte vor animalischer Energie, erklärte bereitwillig, dass er Unternehmer sei. Man kann alles Mögliche unternehmen, ich forschte nicht weiter. Tanja hing an seinem Arm, reizend anzusehen, Gucci sei gepriesen, strahlte zu ihm hoch wie eine verzückte Heilige zu Gott dem Allmächtigen. Ihr Lächeln ging vergleichend zwischen uns hin und her, und nur die Erinnerung an Mia rettete mich vor der einsamen Verdammnis, in der ich jetzt  â ginge es nach Tanja Wunsch  â reuegeplagt schmoren sollte. Ich hatte gedacht, dass ich Wehmut empfinden würde, womöglich Eifersucht. Doch nein, nichts von alldem. Ich schwebte in gelöstem, nahezu euphorischem Zustand über all diesen schnöden Dingen.
»Wie geht es Mafalda?«, fragte ich heiter.
»Oh, ganz prächtig!«, flötete Tanja. »Sie wird sehr von uns verwöhnt, nicht wahr, Henrik?«
»Ja, sie ist eine schnurrige Mieze«, meinte Henrik vergnügt, wobei mir auf Anhieb nicht ganz deutlich war, von wem er denn eigentlich sprach.
Die Richterin hatte schon so viele Scheidungen und Vergleiche vollzogen, dass sie ihre Rolle aus dem Effeff spielte, es kurz und schmerzlos machte, sich mit Bravour auf das Wesentliche konzentrierte. Es war halb zwölf, der Mittagstisch wurde schon gedeckt. Wir alle hatten Hunger. Bei mir knurrte schon der Magen, ich rutschte unruhig auf meinem Stuhl herum. Endlich las uns die Richterin das Protokoll vor: Tanja erhielt eine monatliche Abfindungssumme (für das Katzenfutter?), allerdings nur, solange sie nicht wieder eine Ehe einging. Ob Gott der Vater Heiratspläne im Herzen hegte, war seinem Blick  â der dann und wann zu seiner teuren Markenuhr zuckte  â nicht zu entnehmen. Tanja
Weitere Kostenlose Bücher