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Tochter des Windes - Roman

Tochter des Windes - Roman

Titel: Tochter des Windes - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
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nur ein paar Bemerkungen. Wie üblich gab es eine endlose Passkontrolle, die unser trauriger Haufen in einer Art resigniertem Dämmerzustand über sich ergehen ließ. Ich befühlte meine Bartstoppeln, fühlte mich schmutzig, klamm und mit Mundgeruch.
    Hier war alles fremd, ich verstand kein Wort, konnte keinen Buchstaben lesen. Lost in translation, total. Vor dem Fließband musste ich lange auf meinen Koffer warten. Als er endlich kam, fand ich ihn in seinem Ausmaß erschreckend.
Japaner, mit Taschen behangen, überholten mich, schnell, geschäftig, schoben zielstrebig ihr Gepäck. Ich schlurfte trübsinnig hinterher.
    Eine Stunde später saß ich erschöpft in der Bahn. Ich hatte mühsam den richtigen Schalter gefunden, mühsam eine Fahrkarte gekauft, mühsam den richtigen Aufzug erwischt, der mich zu den richtigen Gleisen beförderte.
    Der Zug war blitzsauber, es roch nach parfümiertem Putzmittel, nirgends eine Zigarettenkippe, die Klimaanlage war exakt eingestellt. Ich streckte die Beine aus, sah aus dem Fenster. Zuerst kam nichts außer den üblichen Airport-Hotels, dann eine graublaue Bergkette, dunkelgrün bewaldete Hügel, Reisfelder. Holzhäuser mit geschwungenen Giebeldächern, grüngekachelt, standen unter schönen Baumprofilen oder inmitten von Obstgärten. Das sah hübsch aus, frei nach Hiroshige (oder war es Hokusai?). Diese Landschaft war friedlich, ein wenig fremdartig, akkurat wie ein Bühnenbild. Die Ortschaften wurden, wie in Europa, von Wohnblöcken beherrscht. Viele Neubauten, Werbetafeln mit riesigen Schriftzeichen, knallgelb oder froschgrün. Auf den Balkonen schaukelte Wäsche im Wind, an runden Bügeln aufgehängt. Bettzeug, bunt gemustert, war zum Lüften ausgebreitet. Der Anblick war irgendwie südländisch. Und doch wieder nicht. Es mochte leichter sein, eine Welt zu verlassen, als eine zu entdecken. Wo war ich hier? In Italien? Ich hielt angestrengt den Blick durch die Scheibe gerichtet, erkannte alles und nichts.
    Bald erschienen, ringsum, weithin, immer näher und aufdringlicher, die Randbezirke Tokios, graue Wohnlandschaften mit Außentreppen und Feuerwehrleitern, dann die ersten Hochhäuser, die ersten Straßenschluchten, durch die sich ruckweise der Autostrom schob. Aus Seitenstraßen drangen andere Ströme vorwärts, verkeilten und vernetzten sich auf
unbegreifliche Weise. Und noch mehr Verkehrsampeln, noch mehr Menschen, riesige Gruppen, und alle in Bewegung. In Tausenden von getönten Glasscheiben spiegelte sich der Morgenhimmel. Die Stadt drängte sich auf, umfasste mich von allen Seiten, sprang mir ins Gesicht. Das dauerte, dauerte endlos, bis der Zug in Tokio Station einfuhr und ich aufschreckte, weil ich fast eingedöst war. Ich riss die Stirn vom Fensterglas weg, zwängte mich im Gedränge nach vorn, fand meinen Koffer, zerrte ihn aus dem Zug. Und stand auf dem Bahnsteig, völlig mir selbst überlassen. Ich hatte noch nie so viele Menschen gesehen. Hunderte und Aberhunderte kamen mir entgegen, strömten vorbei, und ich hatte ab sofort einer von ihnen zu sein. Wie eine Maschine setzte auch ich mich in Bewegung, schob meinen Koffer in eine Halle voller Stimmen und Echos, ruderte gegen den Menschenstrom an oder ließ mich mitzerren, während durch die Lautsprecher freundliche Stimmen  – die mich an Mias Stimme erinnerten  – Anweisungen durchgaben. Ich verstand kein Wort  – auch wenn die Stimme das Ganze auf Englisch wiederholte. Alle Geräusche flossen zusammen, jeder Mensch war eine flüchtige Figur, die in einer Beschleunigung der Zeitgeschichte an mir vorbeiflog. Wie sollte ich, um Himmels willen, in diesen Tausenden, die alle kreuz und quer rannten, einander auswichen, Mia wiederfinden?
    Es war natürlich Mia, die mich fand, knapp zwei Minuten und fünfzig Sekunden nachdem der Zug eingetroffen war. Ich sah sie in der Menge, wie plötzlich ein Strahlen über ihr etwas verkniffenes Gesicht huschte, wie sie mir entgegenlief. Und dann hielt ich sie fest in den Armen, und alles war gut. Wer hatte gesagt (oder geschrieben), die Zurschaustellung der Gefühle sei in der japanischen Öffentlichkeit verpönt? Vor hundert Jahren vielleicht! Jedenfalls drückte ich Mia an meinen Pullover, spürte ihre erhitzten Wangen, ihre
hastig atmende Brust, und der Boden glitt unter mir weg. Ich dachte: Gleich wird mir schlecht, und

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