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Tochter des Windes - Roman

Tochter des Windes - Roman

Titel: Tochter des Windes - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
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Vater zustande. Letzel hatte Tuberkulose. Als er von Ägypten kam, hatte er sich auf dem Schiff angesteckt. Tuberkulose war damals eine recht verbreitete Krankheit. Dr. Koga war ein hervorragender Lungenspezialist. Und solange Letzel bei ihm in Behandlung war, ging es ihm besser. Im Laufe der Zeit müssen sich Arzt und Patient nähergekommen sein. Tante Azai hat mir erzählt, dass Letzel oft bei ihnen zu Gast war.«
    Â»Erinnert sie sich gut an ihn?«
    Mia verzog das Gesicht.
    Â»Das hängt von ihrer Stimmung ab. Ich sagte dir ja, sie ist unberechenbar.«
    Â»Nach mehr als hundert Jahren steht es ihr wohl zu«, meinte ich heiter. Irgendwie war das Ganze ein bisschen versponnen und vielleicht deshalb überhaupt so spannend.

15. Kapitel
    D as Heim, in dem die alte Dame nun wohnte, befand sich etwas abseits der Straße, in einem Park. Ein unschöner Flachbau, mit großer Fensterfront und hellen Vorhängen, die alle unordentlich zur Seite gezogen waren. Am Eingang mussten wir unsere Schuhe ausziehen und in bereitgestellte Stoffpantoffeln schlüpfen. Drinnen sah es aus wie in einem Krankenhaus, mit langen, unpersönlichen Gängen und glänzendem Fußbodenbelag. In den Aufenthaltsräumen, die mich mit ihren Pflanzen und bunten Bildern an einen Kindergarten erinnerten, saßen zusammengesunken alte Leute, die meisten im Rollstuhl. Manche schoben ihren Rollator langsam und konzentriert vor sich her. Alle trugen eine
    Yukata , das bequeme japanische Hauskleid. Und alle Kleider waren weiß, mit einem geometrischen Muster in einem indiskutablen Babyblau. Wie selten man solche alten Leute sah. Das heißt, dachte ich, man wollte es natürlich vergessen, dass es sie gab und dass man eines Tages  – falls nichts dazwischen kam  – dazugehören würde. Alle Betagten hatten etwas Geschlechtsloses, liebenswert Verschlafenes an sich. Sie sahen aus wie Menschen, die still Abschied nehmen und den Rest der Welt nicht stören wollten. Einige lasen Zeitung, andere vertieften sich in kleine Geschicklichkeitsspiele. Ein Fernseher lief. Das Pflegepersonal, junge, energische Frauen und Männer, erkannte man von Weitem an ihrem aufrechten Gang, an ihrem dunklen Haar.

    Â»Die Betagten hier sind fast alle über neunzig«, erklärte mir Mia. »Sie ziehen es vor, so lange wie möglich zu Hause zu bleiben. Außerdem muss man immer sehr lange warten, bis ein Platz frei wird. Es gibt Aufnahmestufen von eins bis vier, und die beiden höchsten Stufen haben immer Vortritt. Tante Azai wartete sechs Jahre, bis sie einen Pflegeplatz fand. Sie war ganz einfach nicht krank genug.«
    Mia ging voraus. Die alte Dame hatte sie wissen lassen, dass sie in einem der Besuchszimmer auf uns warten würde. Durch die offenen Schiebetüren sah ich die paar Zimmer, in denen kleine Gruppen saßen. Die Zimmer waren schlicht eingerichtet, aber hell und freundlich; die eine Hälfte, etwas erhöht, war mit Tatamimatten ausgelegt, daneben, auf dem Linoleumboden, standen ein kleiner Tisch und vier kleine Stühle. An den Wänden hingen ein paar Blumenbilder  – das war alles.
    In einem dieser Zimmerchen kniete in kerzengerader Haltung eine uralte Dame. Sie trug die hellblau und weiß gemusterte Haus- Yukata und sah nach draußen in den Garten, wo einige Azaleen blühten. Als Mia leise die Tür aufschob und mit einer leichten »Entschuldigen-Sie-mich«-Verbeugung das Zimmer betrat, wandte uns die alte Dame das Gesicht zu. Ich betrachtete sie überrascht. Sie war klein gewachsen, aber in den Proportionen erstaunlich vollkommen. Alles, der kleine Kopf, die dünnen Gliedmaßen, passte zusammen. Das kurz geschnittene Haar war weiß und eigentlich noch recht füllig. Die Haut, gelblich wie Wachs, war nahezu faltenlos. Dazu trug sie roten Lippenstift, was sehr befremdend aussah. Ihr Hauskleid war sehr gepflegt, offenbar frisch gebügelt, jede Falte saß tadellos. Ich musste an ein Kind denken, das sich zum Spaß als Hundertjährige verkleidet hatte. Doch die schwarzen, stechenden Augen waren keineswegs die Augen eines Kindes. Sie waren nicht einmal trübe, wie die Augen alter Menschen es oft sind. Ich überreichte ihr meine
Visitenkarte  – mit beiden Händen, wie es sich gehörte. Sie nahm die Karte langsam und sehr feierlich, deutete mit dem Kopf ein Dankeschön an und legte die Visitenkarte dicht vor ihre Knie, bevor

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