Tochter des Windes - Roman
nur nicht brüskieren.«
»Was tut sie denn die ganze Zeit, auÃer schlafen?«
»Wahrscheinlich denkt sie über ihr Leben nach.«
»Hatte sie ein interessantes Leben?«
»Ach, darüber weià ich wenig. Früher, im neunzehnten Jahrhundert, führte die Familie schon eine Apotheke westlicher Prägung. Ihr Vater Yoshiaki Koga war Arzt, ihr jüngerer Bruder Matsuo ebenfalls. Der zog später nach Sendai. Heute ist er längst über achtzig, soll aber noch Sprechstunden halten.«
»In diesem Alter?«
»Das ist in Japan keineswegs unüblich. Wir haben eine sehr hohe Lebenserwartung. Wer mit sechzig in Rente geht, sucht sich einen anderen Job, belegt Kurse, gründet eine neue Firma.«
»Eine Geldfrage?«
»Nein, durchaus nicht. Unsere Altersversorgung ist gut. Aber die Leute wollen noch etwas tun, was ihnen Spaà macht. Das betrifft vor allem die Salariman , die Büromitarbeiter, die jahrelang in einen festen Trott eingespannt waren. Sie wollen nicht zum Sodai Gomi verkommen.«
»Was ist ein Sodai Gomi ?«
»Ein âºAbfall-Ehemannâ¹, den die Hausfrau am liebsten in die Mülltonne stecken würde!«
»Gnadenlos!«, seufzte ich.
Sie lachte.
»Oh ja, hier ist vieles anders als in Deutschland.«
»Und Tante Azai?«
»Sie hatte die Höhere Schule besucht, als es für ein Mädchen noch unüblich war. Wahrscheinlich machten sich die Eltern Gedanken, weil sie nicht besonders attraktiv war. Ihre ältere Schwester Tomoko  â meine GroÃmutter  â war sehr schön. Bei ihr legte man mehr auf die üblichen weiblichen Fähigkeiten Wert. Sie fand dann auch schnell einen Mann, allerdings gegen den Willen der Familie. Sanshiro Ohno, mein späterer GroÃvater, war ein Bourgeois, sein Vater war Beamter im Kulturministerium. Und ich weiÃ, dass
auch Sanshiros Eltern die Verbindung nicht passte. Aber Tomoko war stur. Sie lieà Sanshiro einfach kommen und platzierte ihn mitten im Wohnzimmer. Mit sechzehn, stell dir das mal vor! Das muss ein Spektakel gewesen sein: die Vorhaltungen, der Zorn  â und kein Wort lauter als das andere! Es gehörte damals zum guten Ton, dass man sich kontrollierte. Alle saÃen da wie die Ãlgötzen, zeigten zuckersüà ihre Zähne und hassten einander. Ich wäre gerne dabei gewesen, ich hätte mich totgelacht.«
»Was hatten die Eltern denn gegen den jungen Mann?«
»Gegen ihn persönlich? Nichts! Nur dass er nicht aus unseren Kreisen war.«
»Aber er war doch aus guter Familie, hast du gesagt.«
Sie lachte in sich hinein.
»Er schon. Das Problem waren wir . Unsere Familie, meine ich. Wir waren nicht sehr⦠comme il faut. «
»Wenn Tomokos Vater doch Arzt war â¦Â«
»⦠gehörten wir trotzdem nicht zum Bürgertum! Und Beamte haben einen sensiblen Standesdünkel. Jedenfalls, Sanshiro und Tomoko drohten, nach Amerika auszuwandern, wenn man ihnen nicht ihren Willen lieÃ.«
»Drohten sie nicht mit Harakiri?«
»Rainer, du hast zu viele Filme gesehen. Nein, Harakiri war nicht mehr zeitgemäÃ. Und am Ende gaben beide Elternteile nach. Aber damit Sanshiros Familie nicht völlig das Gesicht verlor, entsagte er dem Namen Ohno und nannte sich fortan Sanshiro Koga.«
»Was soll das heiÃen?«
»Dass er sich offiziell von seiner Familie trennte und von Tomokos Eltern adoptiert wurde.«
»Ich versteh überhaupt nichts mehr!«
Sie winkte ab.
»Ach, das war vor achtzig Jahren. Es gab Vorurteile â¦Â«
Ich stand immer noch vor der Geschichte wie der sprichwörtliche Ochse vor dem Berg, doch Mia schien zu wissen, worüber sie sprach, und im Augenblick keine Lust zu haben, weitere Erklärungen abzugeben.
»Kurzum, es war eine elegante Lösung, und man feierte eine schöne, wenn auch diskrete Hochzeit. Tomoko und Sanshiro führten viele Jahre lang eine sehr glückliche Ehe. Inzwischen war Azai mit der Schule fertig und begann ein Medizinstudium. Aber dann brach der Zweite Weltkrieg aus. Es dauerte Jahre, bis Azai ihr Studium wieder aufnehmen konnte. Nach dem Abschluss arbeitete sie dann in einem Krankenhaus.«
»War sie verheiratet?«
»Sie heiratete einen Kollegen, aber zu spät, um noch eine Familie zu gründen. Als ihr Mann starb, war sie neunzig.«
»Und die Verbindung mit Letzel?«
»Die kam durch ihren
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