Tochter des Windes - Roman
Sie?«
Ich sagte es Mia (die es längst wusste), und Mia sagte es der alten Dame.
» So desu . Wo haben Sie studiert, bitte?«
Ich breitete meinen ganzen Pedigree vor ihr aus: Schule, Hochschule, Studienaufenthalte, akademische Titel. Und was noch? Kragenweite? SchuhgröÃe?
»Knurr!«, schnaubte die alte Dame. »Und warum haben Sie Ihren Beruf aufgegeben, bitte?«
Mir wurde es heià unter dem Hemdkragen. Ich lieà Mia die Antwort diplomatisch formulieren. Tante Azai nahm es ungerührt zur Kenntnis.
»Warum sind Sie nach Japan gekommen, bitte? Haben Sie vor, Japanisch zu lernen?« (Diesmal fügte sie kein »bitte« hinzu.)
»Ich werde Kurse belegen«, sagte ich.
Die Tante nickte und lieà ein paar frostige Worte von den rot geschminkten Lippen fallen. Ich sah Mia hilflos an.
»Was hat sie gesagt?«
»Sie hat gesagt, das wäre auch nötig. Ãbersetzungen störten den Gesprächsverlauf.«
» So desu , ne?«, knurrte Tante Azai.
Sie starrte mich an. Ich brauchte ein paar Sekunden, um zu reagieren. Ist es nicht so, hatte die alte Dame gefragt.
» So desu «, erwiderte ich demütig.
»Das ist ärgerlich, ne?«
»Ja, sehr ärgerlich«, gab ich zu.
»Meine Nichte sagt, dass Sie ein Buch schreiben wollen. Habe ich das richtig verstanden?«
»Ja, das haben Sie.«
» So desu . Worüber wollen Sie schreiben, bitte?«
»Ãber das Gehirn«, stammelte ich, hilflos im Strom ihrer Fragerei zappelnd.
Sie parierte messerscharf.
»Wie kommen Sie darauf, bitte? Sie sind kein Arzt!«
» Gomennasai , dass sie das fragt!«, murmelte Mia kleinlaut.
» Touché! «, seufzte ich innerlich auf.
»Nein, das bin ich nicht. Aber ich mache mir Gedanken über den Zusammenhang zwischen Kunst und Neurologie.«
»Würden Sie mir das genauer erklären, bitte?«
Mir brach der Schweià aus. Ich kam mir wie vor Gericht vor: Warum haben Sie Ihre GroÃmutter zerstückelt, bitte?
»Wie soll ich ihr das erklären, Mia? Kannst du übersetzen, oder wirst du verrückt?«
»Nein, ich werde nicht verrückt«, sagte Mia.
Ich zog mein Taschentuch hervor und tupfte mir die Stirn ab.
»Es begann mit Michelangelo«, sagte ich.
»Knurr! Michelangelo, so desuka ?«
»Sie fragt, ob sie das richtig verstanden hat.«
Ich schnappte nach Luft.
»Ja, ja, Michelangelo!«
»Möchtest du, dass ich ihr die Geschichte erzähle?«, fragte Mia.
»Ja«, stöhnte ich. »Tu mir den Gefallen.« Ich setzte erschöpft hinzu: »Es ist wahrscheinlich etwas kompliziert für sie.«
Mia machte ein verneinendes Zeichen und begann zu sprechen. Die alte Dame hörte zu, kein Muskel regte sich in ihrem Gesicht. Nach einer Weile wirkte sie ein wenig beduselt. Ich wagte nicht, sie allzu oft anzusehen. Sie schien, während Mia erzählte, eigenen Gedanken nachzuhängen. Hundertacht Jahre, ist man da noch am Ball? Doch urplötzlich zuckten ihre Lider. Wie ein Reptil, das eine Beute erspäht, schoss ein scharfer, schwarzer Blickstrahl zu mir hinüber.
» Omoshiroi «, knurrte sie.
»Wie bitte?«, fragte ich. An Mias halbem Lächeln sah ich, dass sie es hinter sich hatte und alles glücklich überstanden war.
»Tante Azai findet das interessant.«
Ich zeigte, wie es sich ziemte, Bescheidenheit.
»Ich bin erst ganz am Anfang.«
» So desu «, kam die kalte Tantenantwort.
Ich schluckte und bestätigte es.
» Hai-wakarimasu   â ja, ich verstehe.«
Sie sah mich an, als ob sie sagen wollte: Du wärst ja blöde, junger Mann, wenn du das nicht kapieren würdest. Danach schwieg sie eine Weile. Wahrscheinlich dachte sie nach, und da sie hundertacht war, brauchte sie Zeit, um das alles innerlich zu verarbeiten. Ich wurde allmählich kribbelig, als die alte Dame erneut das Wort ergriff.
Sie fände es gar nicht so schlecht, lieà sie mir durch Mia sagen, dass ich in Japan leben wollte. Ich würde hier auf viele neue Dinge und ganz neue Ansichten treffen. Und am Anfang würde ich jede Begebenheit genau so betrachten, als sei
sie eine Sache für sich, ganz speziell und ganz anders. Und erst später begreifen, dass alles zusammenhing.
Hoppla!, dachte ich und unterdrückte ein vorlautes »Wie soll ich das verstehen?« Ich biss mir gerade noch rechtzeitig auf die Zunge.
» So desu «, sagte ich
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