Tochter des Windes - Roman
Teufel im Detail. Ich gestand beschämt meine Vernachlässigung.
»Die Printen waren ja in Zellophan eingewickelt.«
»Trotzdem!«
»Ich hoffe«, seufzte ich, »dass ich keinen entsetzlichen Fauxpas begangen habe.«
»Immerhin spüren die Yoshimuras deinen guten Willen.«
Ich erklärte Mia, dass ich unbedingt und sehr schnell Japanisch lernen wollte. Mia suchte mir die Adresse einer Sprachschule heraus. Ich schrieb mich ein, und zwei Tage später belegte ich schon meine ersten Kurse. Die Schule befand sich in einem Betonklotz im Viertel Shinjuku, der schon einige Jahrzehnte stand und nur funktional zu sein hatte. Der tägliche Unterricht dauerte sechs Stunden, mit einer kurzen
Mittagspause. Danach gab es Hausaufgaben. Das Lehrerpersonal  â Männer und Frauen mittleren Alters  â führten ein hartes Regime. Da sie nur zu ihren Stunden erschienen  â pünktlich auf die Minute zwar  â, sich aber gleich danach aus dem Staub machten, kam ein vertrauter Umgang gar nicht erst auf. Die Studenten, die meist aus Ländern stammten, in denen der Unterricht weniger streng war, vertraten die Meinung, hier herrsche ein unvernünftiges Maà an Strenge und konservativer Gesinnung. Mir machte das nichts aus  â ich war ja schlieÃlich hier, um zu lernen. Ich drückte also die Schulbank mit einigen Amerikanern  â die recht clever und eigentlich sympathisch waren, obwohl ich mich an ihrem Mangel an guter Form störte. Sie waren zu direkt und ich zu hölzern. Meiner Ansicht nach mussten sie noch dringender als die japanische Sprache etwas von der japanischen Höflichkeit lernen. Die Lehrkräfte übersahen geflissentlich ihre Schnoddrigkeit, machten lediglich ein saures Gesicht. Die Koreaner und Chinesen lernten schnell und zielstrebig, waren humorvoll und freundlich, blieben aber unter sich. Wir hatten auch einen Südafrikaner und drei Krankenschwestern aus Malaysia. Diese hatten ihre Köpfe in weiÃe Baumwolle eingewickelt und sahen genau so aus  â dachte ich politisch höchst unkorrekt  â, als kämen sie selbst aus der Unfallstation (Gehirntrauma oder Schädelbruch). Und dann waren da noch zwei Argentinier aus der Automobilbranche, die heftig diskutierend lautstarke Gespräche führten, nicht über Reifen oder Motoren, sondern über einheimische Politik. Der eine war rechts-, der andere linksorientiert, sie stritten unentwegt, lernten aber trotzdem  â so ganz nebenbei  â Japanisch. Und sie waren es, die die beste Aussprache hatten.
Inzwischen schickte mir eine entzückende Mexikanerin mit Namen Beatriz de la Cruz, Auszubildende im Hotelmanagement, telepathische Botschaften durch den Schulraum.
Ihre Glutaugen waren voller VerheiÃung, ihre Amphorenhüften ein echtes Naturwunder, aber irgendetwas an ihr lieà mich an Tanja denken, und da war ich dauergeschädigt. Sie merkte recht bald, dass sie bei mir nicht landen konnte, und machte sich an den Südafrikaner heran, der sein erstes Jahr im diplomatischen Dienst absolvierte und die Morgenröte einer steilen Karriere vor sich sah.
Nach soundso vielen Tagen beherrschte ich ein Mindestvokabular und war in der Lage, ein paar Sätze zu stammeln  â eine phonetische Akrobatik mit lächerlicher Bauchlandung, wenn man Vokale oder Konsonanten falsch betonte. Was die Schrift betraf, baute mein Gehirn Muskeln auf. Neben den Buchstabenzeichen Kanji bestanden die zwei Alphabete Katakana und Hiragana aus jeweils sechsundvierzig phonetischen Symbolen. Man musste das alles mixen, bis man eine einigermaÃen korrekte Formulierung zustande brachte, ein herrlicher Denksport für Tüftler, die den Kopf prall gefüllt mit mehr oder weniger nutzlosem Wissen hatten. Fing ich erst mal an zu üben, war ich stundenlang damit beschäftigt.
In Japan waren die Jahreszeiten ausgeprägter als bei uns. Ich genoss den späten November, der jeden Garten in einen Herbsttraum verwandelte. Unser europäisches Laub zeigte selten so viel Violett und Rot, so viel Karneol und Kupfer. Ãffnete ich am Morgen meine Schiebetüren, wehte ein Goldregen hinab, überzog die lila Blüten der Herbstzeitlosen, blieb an den dunkelgrünen Nadeln der Zwergkiefern hängen. Am tiefblauen Himmel drehten die Krähen ihre schreienden Runden. Und täglich frühmorgens erschien Herr Yoshimura,
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