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Tochter des Windes - Roman

Tochter des Windes - Roman

Titel: Tochter des Windes - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
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Ansprüche. Die Kandidaten sagen den Eltern, dass sie für das Wochenende einen Ausflug planen. Und alle wissen Bescheid.«
    Â»Drum prüfe, wer sich ewig bindet …«
    Â»Genau. Sind beide zufrieden, besuchen die Nakôdo   – die Vermittler  – abwechselnd jede Familie und leiten die nötigen Gespräche ein. Danach wird geheiratet. O Miai ist eben doch sehr praktisch«, schloss Mia ihre Ausführungen. »Für die Weihnachtskuchen, meine ich …«
    Â»Wie bitte?«
    Â»Bist du über dreißig und unverheiratet, wirst du Weihnachtskuchen genannt.«
    Ich seufzte.
    Â»Ein Stück, das übrig bleibt, also? Schon etwas angeknabbert?«
    Sie verstand die Anspielung sofort, lachte und biss mir ins Ohrläppchen.
    Â»Schmeckt aber noch lecker!«
    Die Art und Weise, wie Mia mich in die  – zugegeben  – recht komplizierte japanische Denkungsweise einführte, fand ich grandios. Sie nahm den Dingen jede Strenge, was mir bemerkenswert erschien in Anbetracht dessen, was ich von Deutschland her gewöhnt war. Bei Mia war nichts ausgeschlossen. Ich musste stets auf Neues gefasst sein.

    Sie hatte gesagt, dass sie die erste Nacht mit mir in meinem neuen Zuhause verbringen wollte. Für alle Fälle, meinte sie.
    Â»Man kann nie wissen, was den Ahnen in den Sinn kommt. Du musst das verstehen. Ein Gaijin im Haus, das ist neu für sie.«
    Sie hatte ihre Toilettensachen dabei, Zahnbürste, Föhn und alles, was sie brauchte.
    Â»Keine Knoblauchzehe?«, fragte ich.
    Sie lachte.
    Â»Die Wahrscheinlichkeit, dass Knoblauch die Geister abschreckt, ist sehr gering.«
    Die Ninja kannte ich nur aus amerikanischen Filmen, die ja nicht zum intellektuell höchststehenden Kulturgut gezählt werden konnten. Hierzulande waren sie unter dem Namen Shinobi   – die »Sich-Einschleichenden« bekannt. Aber sie selbst, unter sich, bezeichneten sich als »Windmenschen«. Das war auch der Ausdruck, den Mia benutzte. Sie waren in Alt-Japan die Geheimagenten. Während die Kriegerkaste  – die Samurai  – an starre Verhaltensmuster von Kampf und Ehre gebunden war, richteten sich die »Windmenschen« stets nach dem Unvorhergesehenen. Ihre Blütezeit erlebten sie im fünfzehnten Jahrhundert, in der Zeit der Sengoku , der »kriegführenden Staaten«, in der sich die verschiedenen Feudalherren erbitterte Machtkämpfe lieferten. Mia meinte allerdings, dass es »Windmenschen« schon viel früher, im vierzehnten oder sogar schon im zwölften Jahrhundert, gegeben habe. Die berühmtesten kamen aus der Provinz Iga und der angrenzenden Gegend von Koga. Mias Familienname stammte von dort. Hier lebten die Sippen seit Menschengedenken, webten untereinander komplizierte Beziehungsnetze und stellten sich als Söldner in den Dienst der »Shogune«. Unter der Tokugawa-Regierung im siebzehnten Jahrhundert wurde ihr Handwerk eingeschränkt, doch gab es sie immer noch.
Dann  – in den Zeiten der Meiji-Restauration (1868)  – stiegen die »Windmenschen« zu neuem Ruhm empor, indem man sie als Helden zahlreicher Legenden, Theaterstücke und Literaturwerke einsetzte.
    Mia sprach über ihre Ahnen in belustigtem, nachsichtigem Ton, doch nach meiner Begegnung mit Tante Azai glaubte ich zu verstehen, dass mit der Sorte nicht gut Kirschen essen war. Und es mochte ja sein, dass Mia mir nicht alles sagen wollte.
    Ich war also im Wohnsitz eines alten Geheimbundes gelandet. Das war erregend genug, um mich am Schlafen zu hindern. Dazu wurde ich den Eindruck nicht los, dass es im Haus rumorte. Ich hatte mich nie zu den metaphysischen Menschen gezählt, und mein Draht zum Übersinnlichen war lose, aber Mias und Isaos Theorie, derzufolge ein Haus für seine Bewohner eine Art erweiterten Körper darstellt, war keineswegs nur eine Gedankenspielerei. Häuser vermitteln eine Erinnerung. Sind die Häuser alt, bewahren sie  – in einem Anderswo, das ganz nahe ist  – die Spuren ihrer Geschichte. Wenn man anfängt, so zu denken, kommt ein ganz schönes Narrentheater zusammen. Ich hatte das sonderbare Gefühl, mich mitten in einem Gehirn zu befinden, mit seinen Labyrinthen und Windungen. Das Gefühl war neu, aber nicht unangenehm. Auch die Stimmung dieses merkwürdigen Hauses konnte ich verstehen; mir war, als befände ich mich an einem Ort, den

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