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Tochter des Windes - Roman

Tochter des Windes - Roman

Titel: Tochter des Windes - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
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überaus höflich, aber zugleich auch gebieterisch, sodass ich die Hände ausstreckte, um die Schriftrolle zu nehmen. Doch als ich danach griff, fuhren ihre Hände durch mich hindurch, als ob auch ich nur ein Traum war  – der Traum, den diese Frau gerade träumte. Unwillkürlich wandte ich mich um und erblickte Mia, die dicht hinter mir stand und die Schriftrolle schon an sich genommen hatte. Woraufhin ich mich etwas beschämt wieder der Frau zuwandte, weil die Schriftrolle ja nicht für mich, sondern für Mia bestimmt war. Doch die Frau war nicht mehr da. Sie hatte sich buchstäblich in Luft aufgelöst. Und als ich wieder hinsah, war auch Mia verschwunden.
    Danach wachte ich auf, sah die Sonne durch die Ritzen des Fensters leuchten. Es war wirklich das erste Mal gewesen, dass ich in diesem Haus einen Traum hatte, in dem etwas annähernd Spukhaftes vorkam. Es war langsam an der Zeit, fand ich. Das Gespenst war nur kurz da gewesen, hatte mir
aber  – bis auf die schwarzen Zähne  – eigentlich gut gefallen. Und etwas später, als ich meinen Joghurt löffelte, fiel mir ein, dass ich kürzlich solche Zähne  – und die dazugehörigen Damen  – auf alten Rollbildern in einer Ausstellung gesehen hatte. Relation de cause à effet , wie die Franzosen sagen. Bei der Gelegenheit hatte ich von Mia erfahren, dass japanische Adelige früher ihre Zähne mit einem Pulver schwärzten, das aus der Walnuss gewonnen wurde. Der Kaiserhof bewahrte diese Sitte bis zur Restauration. Ihr eigentlicher Ursprung war die geschichtliche Tatsache, dass die ersten japanischen Kaiser von den Küsten Zentralasiens kamen und im Süden von Japan Betel anpflanzten. Und Betelkauer bekommen schwarze Zähne.
    Ich hatte gemeint, das sei nur ein Trick gewesen, um Parodontitis zu vertuschen. Doch nein  – es war einfach Mode gewesen.
    Â»Man war der Meinung«, hatte Mia erklärt, »dass weiße Zähne etwas Tierisches an sich hatten. Man wollte mit der wilden Natur nichts zu tun haben. Die Zähne der Damen und Herren wurden jeden Morgen geschwärzt.«
    Â»Wie sah das denn aus?«, hatte ich zweifelnd gefragt.
    Mia hatte mit Zähnen gelacht, die zum Glück perlweiß waren.
    Â»Du glaubst es nicht, aber es sah gut aus! Die polierten Zähne glänzten wie Ebenholz. Die Lippen wurden purpurn geschminkt, was das lackschwarze Haar und die helle Gesichtsfarbe zur Geltung brachte. Aber schwarze Zähne waren der Aristokratie vorbehalten. Die Samurai, die keinen Wert auf Luxus und Eitelkeit legten, färbten ihre Zähne nie.«
    Â»Wollten sie damit zeigen, dass sie den Raubtieren näher als ihrer eigenen Gattung standen?«
    Â»Es ging in diese Richtung«, gab Mia zu. »Bleckende weiße Zähne haben etwas Aggressives an sich, ne?«

    Â»Und der Haifisch, der hat Zähne…«, zitierte ich Bertolt Brecht, und wir lachten beide. Daraufhin hatte ich Mia von der Rokokozeit erzählt, als die elegante Welt ihre Läuse und unreine Haut unter Puderschichten vertuschte. Mia hatte mit leicht angeekelter Miene dazu bemerkt, dass schwarze Zähne ihr doch lieber seien, ganz abgesehen davon, dass das tägliche Bad für japanische Damen und Herren seit Menschengedenken ein Muss war. Nicht einmal die Bauern waren dreckig. Reis anzupflanzen war eine heilige Handlung; es gehörte sich, mit sauberen Füßen im Schlamm zu waten, der die Saatkeime zum Reifen brachte. Reis war der Stab des Lebens, und die Erde, die ihn hervorbrachte, musste mit Respekt behandelt werden.
    Mein erster Gedanke war, Mia das alles brühwarm zu erzählen. Mein Verstand zog aber sofort die Bremse. Ich sah deutlich die Worte »Deutscher Dozent sieht Gespenst« wie absurde Schlagzeilen vor meinem inneren Auge gedruckt, während Mia sich vielsagend an die Stirn tippte. Kurzum, der Traum wirkte nachhaltig, solange ich frühstückte, bis der dritte Kaffee das Gespenst aus meinem Kopf spülte. Und als ich zum Unterricht fuhr und in der U-Bahn Vokabeln büffelte, hatte sich mein Gedächtnis mit anderen Dingen zu befassen, die allemal realer waren. Ich vergaß die Frau mit den schwarzen Zähnen.
    Ein paar Tage vergingen. Der Samstag kam. Mia hatte ihren Besuch angekündigt, und ich stellte fest, dass mein Schlafzimmer recht unordentlich aussah. Folglich häufte ich alle Bücher zu einem akkuraten Stapel, zog

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