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Tochter des Windes - Roman

Tochter des Windes - Roman

Titel: Tochter des Windes - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
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den Städten war das offizielle Neujahr vorbei. Das Leben ging wie gewohnt weiter. Doch in den kleineren Ortschaften und auf dem Land wurde am fünfzehnten Februar das mit dem Mondkalender verbundene »kleine Neujahr« gefeiert. Japanische Feste, die mit der Feldarbeit und dem Agrarkalender zusammenhingen, waren laut, bunt und ausgelassen. Mich berührte das sehr. Die Japaner waren sehr unbefangen, scheuten das Abenteuer nicht, das Sichverlieren, und noch weniger die Übertreibungen des eigenen Ich. Sie genossen sich selbst sehr stark, schöpften ihre Vitalität und Leistungskraft aus den Zeichen und Symbolen der Natur. Der Gewinn, der aus solch einer Lebenshaltung entsprang, war eine sonst kaum erreichte Unbeschwertheit. Kinderlieder erzählten von Insekten, Fischen, Tieren, Blumen, von Bäumen und Wasserfällen, von Flüssen und Wolken. Die Zugvögel  – Schwalben, Enten, Kraniche, Wildgänse  – kündigten den Wechsel der Jahreszeiten an. Die Sonne war eine Göttin, die Ahnfrau der Kaiserfamilie. Frau Mond und Frau Regen bestimmten das Wetter. Die Naturverbundenheit war die Grundlage der Sprache, der Literatur und Malerei. Sie war eine Harmonie, die man mit dem Körper wahrnahm. Für mich, der stets die Vernunft vor das Gefühl setzen wollte, war das eine Offenbarung. Denn für mich war die Zurschaustellung der Gefühle ungefähr so, als hätte ich mich in Unterhosen in der Hamburger Fußgängerzone verirrt. Wollte ich meine Hemmungen
vergessen, war ich genau ins richtige Land gekommen. In Japan wurden Worte und Handlungen zu sinnlicher Wahrnehmung, sozusagen dreidimensional. Als bedurfte es nur einer vorgehaltenen Form, um das Luftgebilde atavistischer Erinnerungen zu wecken, die in mir unter den Schlacken germanischer Sachlichkeit begraben waren. Meine blond zerzausten Urahnen, grimmige Waldbewohner, blickten mir über die Schulter: Aha, dich kennen wir doch! Und die Engel und Madonnen der italienischen Renaissance trieben nebenher, auf irgendeine magische Weise mit den Figuren der japanischen Geisteswelt verwoben. Aber dies war schon nicht mehr ganz klar.
    Zu Träumen hatte ich stets ein nüchternes Verhältnis gehabt. Wir sind nicht verantwortlich für das, was das Gehirn mit uns anstellt, wenn es unsere Erlebnisse und Gedanken durch die Zellen rieseln lässt, während der Körper ruht. Aber Ende Februar geschah es wahrhaftig, dass ich von einem Gespenst träumte. An Gespenster und dergleichen hatte ich nie geglaubt, und ich war eigentlich froh, dass ich endlich eins sah, wenn auch nur im Traum. Aber Erscheinungen kommen stets von dort, wo man sie heimlich vermutet. In meinem Traum jedenfalls stieg das Gespenst aus dem Brunnenloch. Sein Anblick überraschte mich wie die Erfüllung einer Erwartung, von der ich nicht mehr gewusst hatte, dass ich sie hegte. Jedenfalls sah ich zunächst eine Gestalt, die sich in einem schwach beleuchteten Tunnel regte. Während ich nach unten starrte, begann die Gestalt sich an der Wand emporzuziehen, und zwar nur mit einer Hand; ich wusste nicht, wie sie es machte. Ich musste an eine Spinne denken, die an einem Faden hing und leicht hin und her schwang. Die Gestalt  – eine Frau  – trug ein weißes Gewand, ihr schwarzes Haar hob sich und wehte wie in einem kräftigen Luftzug. Als sie sich geräuschlos über den Rand schwang, sah ich, dass sie
eine Schriftrolle in der Hand hatte, eine von der Sorte, wie man sie oft in japanischen Museen sieht. Eine solche Schriftrolle kann, je nach Umfang, entweder nur ein Brief sein oder aber auch ein ganzer Roman mit wundervollen Kalligrafien und handgemalten Illustrationen. Die Schriftrolle in der Hand meines Gespenstes ließ eher auf einen Brief oder eine Urkunde schließen. Die Frau, die nun vor meinen Augen auf dem Brunnenrand balancierte, so leicht, als ob sie schwebte, hatte das wunderschöne Antlitz einer italienischen Madonna. Ihre Lippen aber waren rot, und als sie mich freundlich anlächelte, sah ich eine Besonderheit an ihr, die gewiss keiner Madonna zu eigen war: Sie hatte schwarze Zähne! Ich will damit nicht sagen, dass sie dringend eine Zahnbehandlung nötig hatte, nein, ihre Zähne waren ebenmäßig und eindeutig gesund … aber na ja, schwarz gefärbt. Während ich sie verwirrt anstarrte, schwebte mir die Frau entgegen und überreichte mir die Schriftrolle. Die Geste war

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