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Tochter des Windes - Roman

Tochter des Windes - Roman

Titel: Tochter des Windes - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
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mit Pyramiden von Früchten und Geschenken aller Art. Der Duft von Weihrauch erfüllte die Luft, und vereinzelte Schneeflocken fielen lautlos herab, wie aus dem Nichts. Feierliches Flötenspiel wurde durch langsame Gongschläge untermalt. Das Pochen der Tempeltrommeln mischte sich in das Scharren unzähliger Füße, in das unentwegte Summen menschlicher Stimmen. Es war eiskalt: Jung und Alt stand
der Atem wie kleine weiße Wölkchen vor dem Gesicht. Alle machten glückliche, erwartungsfrohe Gesichter. Inmitten der fröhlichen Menschenmenge fühlte ich mich heiter und geborgen, obwohl ich eine innere Unruhe empfand, ein seltsames Flattern des Herzens. Ich nahm wahr, dass diese Augenblicke vergänglich waren, wie alle schönen Augenblicke es sind, wenn wir anfangen, darüber nachzudenken. Ich spürte um mich herum und tief unter meinen Füßen eine andere Kraft, dunkel, weit weg von allem menschlichen Tun. Solche Empfindungen hatte ich selten, mir fehlte es an Fantasie. Es war, als würde ich gleichzeitig von zwei getrennten Sinneswahrnehmungen gelenkt. Die eine umhüllte mich mit bezaubernden Bildern und feierlich schwingender Musik, die andere drang mit irgendwelchen tieferen Schallwellen in mich ein, versetzte mich in Alarmzustand, als ob irgendein Computer eine sporadisch aufflackernde Störungsmeldung aufzeichnete. Inzwischen war es bald Mitternacht, und ganz plötzlich schlug der fröhliche Überschwang in Stille um. Und in dem Augenblick, als der erste gewaltige Glockenschlag im Hof des Tempels widerhallte und das neue Jahr einläutete, überkam mich ein Frösteln. Ich spürte in mir voll geheimnisvoller Tiefsinnigkeit das Motiv der schwindenden Zeit, die sich in Dunkelheit auflöst, während das neue Jahr im rot glühenden Licht der Fackeln geboren wird…
    Nach der Feier kehrten wir in eine Imbissstube ein, kauerten im fröhlichen Gedränge auf kleinen Holzstühlen, vor uns einen Teller mit Toshi-Koshi - Soba   – Glücksnudeln, die gleich nach dem Tempelbesuch verzehrt werden mussten. Alle Leute saugten unter Gelächter und Schlürflauten die Nudeln ein, und ich schlürfte mit allen anderen um die Wette, während Mia ihre Stäbchen im Zeitlupentempo zum Mund führte und kaum etwas zu sich nahm.
    Â»Was ist los?«

    Wir mussten laut sprechen, um uns im Lärmpegel Gehör zu verschaffen. »Hast du keinen Hunger?«
    Â»Doch, und wie!«, stöhnte sie. »Aber ich kann nichts essen. Ich habe Angst.«
    Ich starrte sie an.
    Â»Angst?«
    Â»Ja, dass ich Flecken mache!«
    Wir sahen einander an und fingen in unwiderstehlicher Heiterkeit an zu lachen. Doch nach einer Weile veränderte sich Mias bewegliches Gesicht. Ihr Ausdruck wurde ernst.
    Â»Rainer … ich muss dich etwas fragen. Bist du eigentlich glücklich hier in Japan?«
    Ich dachte über die Frage nach. Es war seit einer halben Stunde Neujahr. Zeit, um Bilanz zu ziehen. Es wurde auch ruhiger im Lokal. Viele Gäste waren schon gegangen. Ich bestellte ein Kännchen Sake. Inzwischen hatte ich gelernt, Sake richtig zu trinken, nämlich in kleinen Schlucken, genüsslich und in Maßen. Ich mochte Sake sehr. Und meine Allergie hatte ich definitiv in Prag gelassen.
    Während Mia elegant an ihrem Schälchen nippte, sagte ich:
    Â»Es war nicht vorherzusehen. Japan hätte der Flop meines Lebens werden können. Aber je länger ich hier bin, desto mehr gefällt es mir …«
    Mia schwieg, warf mir einen aufmunternden Blick zu. Ihre silbernen Schmuckspangen glitzerten. Sie sah ein wenig fremdartig und wunderschön aus. Ich sprach weiter: »Um ehrlich zu sein, am Anfang war es gar nicht so einfach für mich. Das Leben hierzulande verlangt doch viel soziale Kompetenz …«
    Mia lächelte mit kirschroten Lippen.
    Â»Mmm … hast du die nicht?«
    Â»Nicht immer, tut mir leid. Aber als Ausländer darf man
sich nicht einigeln, sondern muss auf die Leute zugehen. Wenn man wartet, dass die Leute von selbst kommen, kann man ganz Japan in tiefer Verzweiflung rufen, und niemand meldet sich. Für einen Gaijin mit Seelenzuständen interessiert sich kein Mensch. Reichen die Sprachkenntnisse nicht aus, sollte man nichtverbal kommunizieren. Ein freundliches Lächeln hilft immer. Frische Socken auch, damit man komplexlos aus den Schuhen steigen kann. Und wer ein grimmiges Gesicht macht, ist bald

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