Tochter des Windes - Roman
gehen â¦Â«
Ich musste eine Weile geschlafen haben, denn meine Beine fühlten sich steif an, und ich war ganz durchgefroren. Es hatte auch wieder angefangen zu regnen. Ich richtete mich mühsam auf, stapfte hinter den beiden Erwachsenen den Hang hinab. Ich stand noch unter dem Eindruck meines Traumes. Doch Mutter verriet ich nichts davon. Wer diese Frau im Traum gewesen war, konnte ich nicht sagen. Sie hatte mir aber Schweigen geboten. Geisterfrauen sind sehr mächtig. Ich durfte ihr Verbot nicht missachten.
Mir wurde plötzlich klamm unter dem Kragen.
»Mia, hör zu ⦠Es hört sich zwar lächerlich an ⦠aber ich habe auch von dieser Frau geträumt â¦Â«
Sie traute ihren Ohren nicht.
»Du hast von ihr geträumt?«
»Ja, ich habe sie ganz deutlich gesehen. Sie hatte schwarze Zähne und sah wirklich sexy dabei aus. Unglaublich!«
»Warum hast du es mir nicht gesagt?«
»Ich wollte dich mit meinen Hirngespinsten verschonen.«
Sie schüttelte heftig den Kopf.
»Es war kein Hirngespinst.«
»Also, ich bin nicht ohne esoterische Einsicht, aber das geht mir doch zu weit. Wer ist diese Frau überhaupt? Lässt sich das herausfinden?«
Mia schüttelte den Kopf. »Tante Azai dürfte es wahrscheinlich wissen, aber den Namen wird sie kaum preisgeben.«
»Warum nicht?«
Sie zog die Schultern hoch.
»Weil die alte Generation auf idiotische Weise die Vergangenheit respektiert.«
»Hast du eine Ahnung, wer die Frau sein könnte?«
Sie runzelte die Stirn.
»Ich denke, dass sie  â wer immer sie auch sein mochte  â in unserer Familiengeschichte eine wichtige Rolle spielte.« Und setzte mit leichtem Sarkasmus hinzu: »Wenn du dir Gedanken über die Fähigkeiten des Gehirns machst, ist das doch interessant, ne?«
Ich blieb einen Augenblick stumm. Hatte Tante Azai Visionen, dann war das schon o.k. Letztlich stand ihr das in ihrem Alter zu. Hatte hingegen ich Visionen, dann war das bedenklich. Ich wehrte mich entschieden dagegen. Die Geschichte passte mir ganz und gar nicht in den Kram.
Mit seinen Erkundungen in der nebligen Feuchtigkeit hatte Onkel Jan sich übernommen. Eine Zeit lang fühlte er sich gar nicht gut. Aber Vaters sehr moderne Heilmethoden linderten seine Atembeschwerden, sodass es ihm bald wieder besser ging. Er war ein gefragter Architekt und arbeitete an verschiedenen Projekten. Das Stadthaus von Hiroshima wurde 1916 fertiggestellt. Die kühne Bauart, einzigartig
für Japan, war seiner Zeit weit voraus. Kritiken, die dem Bauwerk vorwarfen, zu wenig der einheimischen Tradition zu entsprechen, gingen im Konzert der Lobreden unter. Unsere Familie war zur offiziellen Einweihungsfeier eingeladen. Das Stadthaus war ein europäisch anmutendes Gebäude, mit einer mächtigen Kuppel, die mit Kupfer überzogen war. Kupfer dunkelt mit der Zeit nach und verliert seinen Glanz, aber damals war die Kupferschicht neu und schimmerte golden. Bei diesem Anblick überkam mich ein seltsames Gefühl von Déjà -vu. Und als ich in der Menge der Ehrengäste das Atrium betrat und zur Kuppel emporblickte, hatte ich plötzlich den Eindruck, ein Teil meines Geistes sei an einen anderen Ort versetzt worden. Es war ein völlig fremder Ort, den ich aber trotzdem kannte. Ich sah alle Farben grell leuchten, aber verzerrt, wie aus gröÃerer Entfernung. Die Vision störte kaum meine Wahrnehmung der offiziellen Ansprachen, die gerade gehalten wurden. Wohl nur einen Augenblick lang hatte ich den Kontakt zu dem, was »die Wirklichkeit« genannt wird, verloren. Und doch reihten sich in diesem »Anderswo« mehrere Szenen zu einem zeitlichen Ablauf aneinander, sodass mir am Ende der Vorgang recht lang vorkam. Ich könnte jetzt die Augen schlieÃen, und alles stünde vor mir, als ob es vor einer Minute geschehen wäre. Dabei liegt das Ganze fast ein Jahrhundert zurück. Denn gesehen habe ich es zweifellos. Und mein Gedächtnis lässt mich noch nicht im Stich. Ich blickte also zur Kuppel empor und sah eine Ãberlagerung von Bildern. Im mattgoldenen Metallglanz kostbarer Schnitzereien bewegten sich prachtvoll gekleidete Gestalten. Man verbeugte sich vor einem Mann, der mit elastischen Schritten durch eine Tür trat. Er kam offenbar von einer Schlacht, denn er war noch in Rüstung gekleidet und trug seine Waffen, das Kurz- und das Langschwert.
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