Tod am Chiemsee (German Edition)
dann war da jemand aber ganz schön sauer«, bemerkte Maximilian.
Und ob da jemand ganz schön sauer gewesen war. Das glaubte auch Althea.
Oder aber dieser jemand hatte befürchtet, enttarnt zu werden, vielleicht, weil
gerade diese Person sich die angedrohte Öffentlichkeit nicht leisten konnte.
Selbstmord war viel zu sauber. Zu Gerlinde Dissler hätte er nicht
gepasst.
Jetzt, in der Ruhe des Morgens, schaute sie aus dem Fenster und
hielt sich gähnend eine Hand vor den Mund. »Es ist mächtig spät geworden heute
Nacht …«, sagte sie entschuldigend und wandte sich zum Kreuz über ihrem Bett
um.
Die Radiomoderatoren tauschten sich gerade über einen Einbruch auf
Frauenchiemsee aus: »Die Tote im See war die Geschädigte,
obwohl bislang noch niemand so genau zu wissen scheint, was denn gestohlen
wurde. Gerlinde Dissler war Malerin, aber kommt bloß nicht mit ein paar
»Disslers« an, die ihr beim Stöbern auf dem Flohmarkt gefunden habt. Die sind
bestimmt gefälscht.«
Das könnte passen – oder auch nicht, dachte Althea.
Das Versteck auf dem Friedhof. »Wollte der Kerl sich zuerst
vergewissern, dass die Fotos nicht in ihrem Haus zu finden sind? Wer ist er,
ein Komplize oder nur ein Vertrauter, der am Geld genauso viel Geschmack findet
wie Gerlinde? Oh, es ist kompliziert.« Althea zupfte an ihrem Ohrläppchen.
»Sie waren alle auf den Fotos – alle. Sogar Franz Josef Strauß«,
berichtete Althea. »Jedenfalls bin ich mir fast sicher, dass er es war.«
Unverkennbar eigentlich. Franz Josef, der sich Rat bei der alten Kath holte.
Und Gerlinde Dissler hatte auch das fotografiert.
Doch diese gewichtige Prominenz war damit auch die Einzige,
ansonsten zeigten die Bilder Internatsschülerinnen, Nonnen, Novizinnen,
Personen, die für die Schule und den Orden tätig waren, und Einheimische.
Manche der Situationen, in denen der Auslöser gedrückt worden war, waren
eindeutig, andere wiederum fast zu gut erwischt, beinahe wie gestellt.
Gregor zusammen mit Tobi, wie er ihn unsittlich berührte, obwohl er
das ganz sicher niemals getan hatte. Aber das Foto ließ es genau so aussehen.
Ein Junge, der mit halb heruntergelassener Hose vor einem Mann steht,
Tränenspuren im Gesicht, und der Mann, der dem Jungen sehr nahe ist, mit einer
Hand seine Wange streichelt und die andere nach der Hose ausstreckt.
Aber wer wusste schon oder wollte es wissen, dass Tobi sich bis weit
in die Pubertät hinein gelegentlich eingenässt hatte, es vielleicht sogar heute
noch tat. Keiner. Und schon gar nicht, wenn er dieses Bild gesehen hätte.
»Das Böse liegt so nah.« Althea ließ sich auf ihr Bett sinken.
»Manchmal steckt es auch in einem selbst.«
Maximilian hatte sie zum Kloster zurückbegleitet und die Leiter
wieder aufgeräumt, damit niemand auf falsche Gedanken kam. Althea hoffte, dass
Friederike traumselig schlief und ihren Enkel überhaupt nicht heimkommen hörte.
Friederike Villbrock. »Und ich habe nicht eine Sekunde daran
gedacht, das hübsche Bild zu behalten«, sagte Althea. Sogar die ehemalige
Richterin hätte ein Motiv für den Mord gehabt, aber die Fotos waren alt, und
längst hätte jemand Gerlinde Dissler das Genick brechen können, hätte er oder
sie das gewollt.
Es musste eine neue Schuld sein. Und alles Neue sollte auf der
Speicherkarte zu finden sein.
Außerdem war Althea so, als hätte sie den Mann auf dem Friedhof
erkannt – nicht an Äußerlichkeiten, dafür hatte die Sturmmaske mit den
ausgeschnittenen Sehschlitzen gesorgt, doch Menschen konnte man nicht nur daran
erkennen. Der Grabschänder hatte einen unverkennbaren Geruch verströmt. Arthur
Barhaupt war es jedenfalls nicht gewesen, das wusste Althea.
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Schlangenknöterich (Polygonum bistorta)
Standort: Sonnig bis halbschattig, feucht, nährstoffreich.
Wirkungsweise: Entzündungshemmend, heilungsfördernd. In der Volksmedizin wird Tee verwendet,
der aus der Wurzel zubereitet wird.
Wissenswertes: Den Namen verdankt der Schlangenknöterich der Form seines Wurzelstockes. Dieser
ist schlangenartig gewunden und mit Blattresten bedeckt, die man als Schuppen
deuten könnte. Früher wurde er deshalb zur Behandlung von Schlangenbissen
verwendet.
Er war in München geblieben, weil noch ein paar Dinge
erledigt werden mussten, ehe er aus der Stadt hinaus und zurück in Richtung
Prien am Chiemsee fahren konnte, um von dort aus ein Schiff zur Insel zu
nehmen.
Die Rosenheim Cops, wie Stefan Sanders die Kollegen zwischen Inn und
Isar nannte, hatten sich um die
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