Tod am Kanal
fand die richtigen Worte, um das auszudrücken, was
wohl alle dachten.
»Chef«, schloss er seinen Beitrag, »wir werden Sie
vermissen. Das sei Ihnen versichert.«
Grothe wischte sich verstohlen die Augenwinkel. Er
fiel ihm sichtlich schwer, seine Rührung zu verbergen. Nordfriesland – das war sein Land gewesen. Hier hatte er die Aufgabe gefunden, die sein Lebensinhalt
gewesen war.
Mit zunächst stockenden Worten, dann aber immer
flüssiger, ließ der Chef noch einmal seine langen Jahre bei der Polizei Revue
passieren. Kurz vor dem Ende seiner Ausführungen hielt er abrupt inne, griff
sich an die Brust und förderte sein Zigarrenetui aus der Innentasche der
Uniform zutage. Unter dem tosenden Applaus der Anwesenden entzündete er eine
seiner dicken Zigarren, blies aus vollen Wangen mit einem schelmischen Lachen
den Rauch in die Luft und sagte: »Damit ihr mich nie vergesst.« Dann zog er
seine Frau gegen deren Widerstand vor die Versammlung, nahm sie zärtlich in den
Arm und flüsterte ihr zu: »Ohne dich, meine Grete, wäre das alles nicht machbar
gewesen.«
Der Beifall währte minutenlang. Und niemand bemerkte
zunächst, wie sich die große Tür der Aula behutsam geöffnet hatte und plötzlich
mit fröhlichem Geschrei eine kunterbunte Kinderschar den Festsaal stürmte,
gefolgt von Karlchen, der in seiner schrillen Aufmachung jedes Kind in den
Schatten stellte.
Die Kinder gruppierten sich zu einem Chor und sangen
mit unverdorbener Inbrunst und durch kleine spaßige Einlagen und Kunststücke
unterbrochen heimatliche Folklore. Eine Sechsjährige mit deutlich sichtbaren
Zahnlücken rezitierte Theodor Storms »Graue Stadt am Meer«. Niemanden störte
es, dass die Kleine zahlreiche Texthänger hatte und Karlchen soufflierte. Und
bei der abschließenden Hymne der Küstenbewohner »Wo die Nordseewellen« stimmten
alle Anwesenden ein.
Während die Abschiedsgeschenke an den Chef überreicht
wurden und er sich besonders über den Humidor aus Riozedernholz freute, für den
die Mitarbeiter der Polizeidirektion gesammelt hatten, tauchte Ruth Fehling
neben Hilke auf. »Warum muss der Mensch einem immer solche Schrecken einjagen?«
Hilke sah die Sekretärin des Chefs verständnislos an.
»Wer? Herr Grothe?«
»Nein«, lachte Frau Fehling. »Ihr Kollege Große Jäger.
Seit Wochen habe ich gezittert, weil ich nichts von ihm gehört habe. Er hatte
versprochen, sich um das Rahmenprogramm für die Verabschiedungsfeier zu
kümmern. Er hätte doch nur ein Wort verlauten lassen können, dass er alles mit
dem Lebenspartner von Herrn Mommsen abgestimmt hat. Karlchen – so sagen Sie
doch – hat den Auftritt der Kinder von langer Hand vorbereitet.« Frau Fehling
schüttelte heftig ihren Kopf. »Also. So was.«
Was sollte Hilke darauf erwidern? Sie reihte sich in
die Schlange derer ein, die dem Chef ein letztes Mal ein paar persönliche Worte
sagen und ihm die Hand drücken wollten. Dann schlich sie unbemerkt zum Ausgang.
Vor der Tür des Hotels griff sie zu ihrem Handy und wählte Christophs Nummer,
um ihn zu informieren.
Der dünne Rauchfaden kräuselte sich gen Himmel.
Versonnen sah Große Jäger dem blauen Dunst nach, der von seiner Zigarette
aufstieg. Er lehnte gegen das Autodach, inhalierte und lauschte mit einem Ohr
ins Wageninnere.
Christoph hatte den Lautsprecher auf Mithören
gestellt, so bekam der Oberkommissar Hilkes Bericht über die Abschiedsfeier des
Polizeidirektors mit.
»Jetzt hast du dich ganz umsonst fein herausgeputzt«,
lästerte Große Jäger und musterte Christoph, der immer noch seinen Blazer und
die Krawatte trug. Er war – wie jeden Tag – mit seiner abgewetzten Jeans, dem
Holzfällerhemd und der fleckigen Lederweste bekleidet.
»Du hast die arme Frau Fehling ganz schön an der Nase
herumgeführt. Ich habe bisher noch nie erlebt, dass sie die Fassung verloren
hat, aber die Überraschung, die du für den Chef zum Abschied organisiert hast,
hättest du zumindest ihr ankündigen können.«
Große Jäger zeigte seine nikotingelben Zähne. »Wäre es
dann noch eine Überraschung gewesen? Gottlob ist Karlchen ausgesprochen
verschwiegen und diskret und hat auch gegenüber Harm nichts verraten.« Er
lächelte versonnen in sich hinein. »Nun ja. Du erzählst deiner Ehefrau ja auch
nicht alles. Im Übrigen hatte ich zunächst die Idee, dass deine Anna einen
Bauchtanz aufführen sollte. Das wäre bei den alten Männern aus Kiel sicher gut
angekommen. Ich fürchtete aber, dass ich von ihr einen Korb bekommen
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