Tod am Kanal
Nordfriesland zu finden war. Ein strahlend blauer Himmel, ein sanfter Hauch,
der die würzige Seeluft vom Wasser herübertrug, und die lässige Beschaulichkeit,
die man sonst nur den kleinen Hafenorten rund um das Mittelmeer zuschreibt,
waren Balsam für die Seele.
Ob der Chef das auch so empfindet?, dachte Hilke, als
sie in der Ludwig-Nissen-Straße aus dem Auto ihres Mannes stieg. Gegen seinen
Protest hatte sie darauf bestanden, an der Abschiedsfeier für Polizeidirektor
Grothe teilzunehmen.
Langsam schlenderte sie über den Parkplatz auf den
Eingang des Hotels Altes Gymnasium zu, das für sich in Anspruch nahm, zu den
renommiertesten des Landes zu gehören. Zur rechten Hand erstreckte sich der
Neubau mit den komfortablen Zimmern. Sie umrundete den Teich vor dem wuchtigen
Portal mit dem geschwungenen Baldachin und trat in das prachtvolle Foyer des
unter Denkmalschutz stehenden Backsteingebäudes.
Große Kronleuchter an der dunklen Holzbalkendecke
gaben dem Entree heute ein anderes Ambiente als zu jener Zeit, in der Rudolf
Eucken an der Husumer Gelehrtenschule als Lehrer tätig war. Kaum jemand weiß
heute noch, dass der Mann der zweite Deutsche ist, der mit dem Nobelpreis für
Literatur ausgezeichnet worden ist. Überhaupt ist es interessant, dass das
Schaffen fast der Hälfte der deutschen Preisträger mit Schleswig-Holstein
verbunden ist, wenn man Thomas Mann und Günter Grass mit einbezieht, dachte
Hilke.
Gleich am Eingang sah sie die große Hinweistafel.
»Empfang PD Grothe – Historische
Aula – 1. Etage.« Hilke wollte den Raum durchqueren, als sie Ruth Fehling
bemerkte. Die langjährige Sekretärin des Chefs, wie immer stilvoll in einem
eleganten Kostüm gekleidet, trat auf sie zu.
»Frau Hauck. Das ist schön, dass Sie gekommen sind. Da
wird sich der Chef freuen. Wie geht es Ihnen?«
Hilke wehrte ab. »Danke. Gut. Es sind nur noch ein
paar kleine Wehwehchen. Das wird schon wieder.«
Frau Fehling zeigte auf die Treppe im Hintergrund.
»Dort geht es hinauf.«
Mühsam erklomm sie die Stufen. Sie mochte sich nicht
anmerken lassen, dass ihr körperliche Anstrengungen immer noch Mühe bereiteten,
auch wenn ihre beiden Töchter darauf wenig Rücksicht nahmen. Die Hausfrau und
Mutter hatte immer zu »funktionieren«.
Aus der Aula drang gedämpftes Stimmengewirr. Sie
betrat den beeindruckenden Raum mit den restaurierten Ornamentfenstern und
Fresken und ließ das schlichte, aber beeindruckende Interieur einen Moment auf
sich wirken.
Dann entdeckten sie Kollegen von der Polizeidirektion.
Sie musste eine Reihe von Händen schütteln und immer wieder erneut bekunden,
dass es ihr den Umständen entsprechend gut gehen würde. Sie hielt vergeblich
Ausschau nach Christoph, Große Jäger oder Mommsen.
Einer der »Drogisten« kam auf sie zu.
»Christoph und der Onkel sind unterwegs. Harm ist auf
dem Weg ins LKA . Und Werner
Schöller flucht wie ein Rohrspatz. Er sitzt auf der Dienststelle und versucht,
die Müllabfuhr zu stoppen«, erklärte der Kollege. »Mehr weiß ich nicht. Im
Augenblick geht es ziemlich rund.« Er wurde ernst. »Ich habe auch noch nichts
davon gehört, dass man den Typen, der dich so zugerichtet hat, erwischt hat.«
»Früher oder später fassen wir ihn«, sagte Hilke
tapfer und nahm einem Kellner ein Glas Orangensaft ab, nachdem sie den
angebotenen Sekt verschmäht hatte. Sie entdeckte Polizeirat Christiansen im
Gewühl und drückte ihm die Hand. Dann sah sie Dr. Starke aus Flensburg. Der
braun gebrannte Kriminaldirektor balancierte lässig ein Sektglas zwischen Daumen
und Zeigefinger und bemühte sich, eine kleine Gruppe von Männern in ein
Gespräch zu verwickeln. Hilke schlug einen Bogen um die Ansammlung und zog sich
in eine Ecke zurück, in der sie einen Mann mit grauem Bürstenhaarschnitt und
einer gestreiften Fliege entdeckte.
»Hallo, Peter«, grüßte sie den ehemaligen Kollegen,
den sie aus ihrer Zeit bei der Schleswiger Kripo kannte.
Sie wechselten ein paar belanglose Worte, und sie
musste erneut ihre Geschichte wiederholen, bevor der Schleswiger seine Stimme
senkte.
»Hast du Dr. Starke schon entdeckt?«
Hilke nickte.
»Weißt du von dem Gerücht, dass er Nachfolger von
Grothe werden soll?«
Entsetzt sah Hilke den Mann an. Sicher wurden solche
Vermutungen schon seit geraumer Zeit geäußert. Aber Peters Talent, früher als
andere von kommenden Entwicklungen zu hören, kannte sie noch aus Schleswiger
Zeiten.
»Sag bloß«, war ihr ganzer Kommentar.
Peter nickte
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