Tod am Zollhaus
auf das neue Komödienhaus. In London war er oft im Theater gewesen, und er vermisste den Lärm und die Heiterkeit dieser Stunden.
Claes betrachtete den alten Mann freundlich. Er erinnerte sich gut an die Zeit, als Telemann ihm, damals noch ein molliger Johanneum-Schüler mit ungeschickten Fingern, die Kunst des Musizierens beizubringen versucht hatte. Vergeblich: Sosehr er sich auch bemühte, er lernte nie, die richtigen Tasten zu greifen, und auch im Chor war er nicht zu gebrauchen.
Aber der Musicus war seither oft im Herrmanns’schen Haus am Neuen Wandrahm zu Gast. Claes’ Vater war ein spröder Mensch gewesen, für die Künste hatte er wenig Sinn gehabt. Aber den städtischen Musikdirektor, mit dem sich so belebend streiten ließ, hatte er sehr gemocht.
Telemann mochte 84 Jahre alt und kränklich sein, aber sein Geist und ganz besonders sein Blick für die Menschen waren immer noch klar – abgesehen von seiner Schwäche für Claes’ Tante Augusta. Dass er sie als sanfte Blume gepriesen hatte, mochte an dem Port liegen, von dem er an jenem Abend ein wenig zu viel genossen hatte. Dass er sie jedoch seit einiger Zeit als göttliche Muse verehrte, war wirklich kein Zeichen von Klarsicht. Augusta war eine kluge, liebenswürdige alte Dame, aber so unmusikalisch wie die Rappen, die ihre Kutsche zogen.
«Kennst du den jungen Mann dort drüben, Claes?», unterbrach Joachim van Stetten das freundschaftliche Geplänkel der beiden Männer. «In dem grauen Atlasrock, neben Thomas Matthews.»
Der Kaufmann Thomas Matthews saß, eine Zeitung aus seiner Heimatstadt London noch in der Hand, mit einem jungen Mann am Tisch, den Claes nie zuvor gesehen hatte. Ein Fremder war hier nichts Besonderes, Jensens Kaffeehaus war nicht nur der Treffpunkt der Kaufleute, Literaten und Musikanten, sondern auch aller Reisenden, die in die Stadt kamen, sofern sie eine Tasse Kaffee oder Schokolade bezahlen konnten.
Gerade in diesem Moment wandten sich Matthews und der Fremde um und sahen zu ihm herüber. Hatten sie über ihn gesprochen? Unsinn, dachte Claes, wohl eher über den berühmten alten Musikus, der für gebildete Besucher immer eine Attraktion war.
Warum sollten sie über mich sprechen? dachte er und spürte doch, dass Martins Warnung Früchte getragen hatte. Seit Matthews sich vor zwei Jahren in Hamburg niedergelassen hatte, versuchte er ziemlich erfolglos, in den Handel mit Archangelsk einzusteigen. Und sicher hatte er Verbindungen nach Jersey. Erst kürzlich hatte Joachim angedeutet, er möge sich vor Matthews in Acht nehmen. In London sei er als intriganter und windiger Geschäftemacher bekannt.
Claes hatte nicht darauf gehört, er gab nicht viel auf Gerüchte, wenn es um Persönliches ging. Aber seit Martins Brief schien alles anders.
Er schüttelte unwillig den Kopf. Das Unglück auf der Pier von St. Aubin war ein Unfall gewesen, er würde nicht zulassen, dass Misstrauen sein Leben vergiftete. Und auch wenn er Thomas für einen Gecken hielt, traute er ihm doch keine Verbrechen zu.
Telemann hatte seine Lorgnette vor die Augen gehoben und war Claes’ Blick gefolgt.
«Wahrlich ein hübscher junger Mann», kicherte er, «sehr hübsch, besonders die Wimpern. Wartet nur, bis er aufsteht, ich bin sicher, er hat einen Hintern wie eine Aprikose.»
Joachim und Claes sahen sich amüsiert an. Der Alte wurde doch ein wenig wunderlich.
Claes hatte recht gehabt. Als Thomas Matthews mit dem Fremden an ihren Tisch kam, nickte er den beiden Kaufleuten nur kurz zu und verbeugte sich dann tief vor Telemann.
«Meister, darf ich Euch diesen jungen Verehrer Eurer Kunst vorstellen? Friedrich Reichenbach aus Leipzig. Er hat so viel von Eurer Musik gehört, dass er nicht versäumen will, Euch kennenzulernen.»
Der junge Mann hatte tatsächlich besonders hübsche Wimpern, und Claes ertappte sich dabei, dass er ein wenig den Hals reckte, um die Sache mit den Aprikosen zu überprüfen.
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5. Kapitel
Mittwochnachmittag
Die Standuhr tickte leise. Sie zeigte Viertel nach drei. Immer wieder blickte Sophie auf die goldenen Zeiger und fragte sich, ob das Uhrwerk nicht doch einen Fehler hatte. Bei keiner Arbeit verging Claes Herrmanns’ Tochter die Zeit so quälend langsam wie beim Sticken.
Augusta Kjellerup, eine weißhaarige alte Dame, die an ihrer Haube ein für ihr Alter und ihren Witwenstand völlig unpassendes glänzendes Band trug, saß ihr in einem bequemen Sessel gegenüber und tat, als lese sie konzentriert
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