Tod am Zollhaus
Frankreich bereist. Er war sogar im russischen Archangelsk und in St. Petersburg gewesen. Aber keine Stadt war ihm schöner erschienen als Hamburg. Nicht einmal das weiß schimmernde Lissabon auf den Hügeln über dem Tejo unter dem tiefblauen südlichen Himmel.
Venedig vielleicht, auch wenn seine bunten Paläste so ganz anders waren als die hochgiebeligen Häuser aus rotem Backstein oder uraltem Fachwerk, die vor seinem Fenster behäbig in den grauen Himmel ragten. Aber dennoch, vor allem wohl, weil Venedig wie Hamburg eine Stadt im Wasser war. Weil dort die Schritte auf den Brücken über den zahllosen großen und kleinen Kanälen genauso klangen wie hier. Der Nebel, der die Lagunenstadt hinter den Sümpfen immer wieder ganz unvermittelt einhüllte, hatte ihn am meisten an den Norden erinnert.
Auch Hamburg lag in einem Sumpfland, in dem ein Fremder sich leicht verirren konnte. Oder ein achtjähriges Kind. Hätte Blohm ihn nicht gefunden, halbtot von der nassen Kälte und der Angst vor dem Geist des wilden Jägers, der hier umging – das Gebell der Geisterhunde war ja schon ganz nah gewesen –, wäre er nie aus dem Sumpf zurückgekehrt.
Blohm, damals noch Knecht auf einem der großen Höfe in den Marschen, hatte den zitternden Jungen in seinem flachen Boot zurück in die Stadt gestakt. Claes’ Vater hatte ihn zum Dank für das Leben seines Sohnes freigekauft, und seit damals war Blohm immer in seiner Nähe. Mit der Halsstarrigkeit der Leute aus den Marschen hatte er sogar durchgesetzt, den jungen Claes in die Lehrjahre nach London zu begleiten.
Claes glaubte schon lange nicht mehr an Gespenster. Er sah hinaus auf die Stadt und spürte zum ersten Mal Fremdheit. Er sah durch das Fenster wie auf das neue Bild eines fremden Künstlers. Das Gefühl der Sicherheit, das ihm hier so selbstverständlich war, dass es ihm nur bewusst wurde, wenn er von einer langen Reise zurückkam, hatte ihn an diesem Morgen verlassen. Er hatte nicht nur Freunde hier, natürlich nicht, es gab Konkurrenten, und früher, als er noch jung war, hatte es Feindschaft um der einen oder anderen Liebe willen gegeben. Es gab Männer, die er nicht mochte, andere, die ihn nicht mochten.
Vielleicht hatte er in den mehr als vierzig Jahren seines Lebens mehr Unmut erregt, als ihm bewusst war. So war das eben, wenn man ein großes Geschäft führte und immer ein waches Auge auf den Rat der Stadt und der Commerz-Deputation hatte. Aber Feinde? Männer, die ihn so sehr hassten oder fürchteten, dass sie einen seiner Vertrauten töteten und eines seiner Schiffe zerstörten?
Claes war plötzlich sehr kalt. Der Schmerz in seinem Bein und seiner Schulter erinnerte ihn an den Unfall auf Jersey. Auch dort hatte er nur freundliche Menschen getroffen. Und doch hatte einer von ihnen vielleicht versucht, ihn zu töten.
Warum?
Er drehte sich abrupt um und ging zum Tisch zurück.
Augusta sah ihn immer noch aufmerksam an. «Du denkst, was ich denke, Claes. Du rechnest all die Unfälle in den letzten Monaten zusammen und weißt, dass es unmöglich ist, in so kurzer Zeit so viel Pech zu haben.»
«Ich würde gerne an einen schwarzen Stern über unserem Haus glauben, aber seit jemand versucht hat, Martin umzubringen, kann ich das nicht mehr. Ich kann auch nicht glauben, dass Gott oder der Teufel das Unglück schicken. Da hat ein ganz Irdischer die Fäden in der Hand.»
Er setzte sich wieder an den Tisch und rührte nachdenklich in seinem Gerstenbrei.
«Hilf mir denken, Augusta.» Er schob energisch seine Schüssel beiseite. «Nur dir kann ich blind vertrauen.»
«Sei nicht bitter, Claes. Tatsächlich gibt es nur einen, dem du nicht vertrauen kannst.»
«Mag sein. Aber solange ich nicht weiß, wer das ist, muss ich vorsichtiger sein, als mir lieb ist. Die Bilanz der letzten Monate ist trübe genug. Zuerst das Unglück auf Jersey.» Er legte seinen Löffel in die Mitte des Tisches. «Das», er schob die Salzschüssel in die Nähe des Löffels, «ist die Explosion in Lissabon. Und der Überfall auf Martin.» Die Butterschale fand Platz gegenüber dem Salz. «Drei Ereignisse, so weit voneinander entfernt, dass sie scheinbar nichts miteinander zu tun haben können.»
Mit dem Zeigefinger zog er unsichtbare Linien zwischen Löffel, Salzschüssel und Butterschale.
«In diesem Dreieck, mittendrin, sitzt einer, der vor gar nichts zurückschreckt.»
«Er muss einen Grund haben.»
«Ich habe die ganze Nacht gegrübelt, Augusta. Seit Martin da unten liegt und um
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