Tod am Zollhaus
Füße. Bei deiner Schwester am Rhein ist zwar das Wetter besser als hier im Norden, aber sie ähnelt gar zu sehr eurem Vater. Mein Bruder war mir auch zu vertrocknet und viel zu sicher, dass ihm ein Platz im Himmel gewiss war. Nein, Claes», sie beugte sich vor und strich leicht über seine Hand, «was du ein ruhiges Leben nennst, ist tatsächlich nichts als einsame Langeweile. Ich bin glücklich bei euch. Du behandelst mich nie, als wäre ich schwachsinnig oder zerbrechlich, als müsste man mich von allem, was das Leben spannend macht, fernhalten. Doch bevor wir beide nun in Tränen der Rührung ausbrechen, erkläre mir, warum du ein Idiot bist.»
Während Claes von der Begegnung mit Anne und dem Captain erzählte – seine Erinnerungen an Blicke, Düfte und feige verpasste Gelegenheiten verschwieg er allerdings –, vergaß er völlig zu fragen, wen Augusta an diesem Nachmittag besucht hatte.
Augusta fand zwar, dass die unglückliche Szene am Hafen kaum für Claes’ Selbstanklage ausreichte, aber sie hatte genug gehört, um zu wissen, dass einerseits weitere Fragen jetzt nicht angebracht waren und dass es andererseits höchste Zeit war, Anne St. Roberts kennenzulernen.
Es musste einen Grund haben, dass Claes rote Ohren bekam wie ein Johanneumschüler beim Schlittschuhlaufen mit seiner ersten Liebe, wenn er von ihr sprach.
Mittwochnacht
Es war kurz nach dem Elfuhrläuten. Der Hafen lag ruhig in der dunklen Nacht, nur das Knarren der Masten und das leichte Plätschern des Wassers an den dicken Schiffsbäuchen waren zu hören, irgendwo jammerte eine Katze, und ab und zu klangen Gelächter und Geschrei aus den Schenken hinter dem Rathaus. Von Nordwesten zogen dicke Wolken auf und schoben sich vor den fast vollen Mond.
Der Mann, der, in einen schwarzen Kapuzenmantel gehüllt, von der portugiesischen Brigg kletterte, fast lautlos über die Planke lief und an Land sprang, fühlte sich in der Dunkelheit sicher. Das Schiff hatte kurz nach Sonnenuntergang festgemacht, aber er war bis jetzt unter Deck geblieben.
Schnell schlüpfte er hinter einen Karren und wartete einige Minuten. Aber nichts rührte sich. Die Matrosen schliefen erschöpft vom Löschen der Ladung in ihren Hängematten unter Deck oder holten in einer der Schenken nach, was sie in den Wochen auf See vermisst hatten.
Gut, dachte er, niemand wird mich sehen. Trotzdem fühlte er eine unbestimmte Angst. Er war ein ganzes Jahr fort gewesen und hatte in dieser Zeit oft von seiner Rückkehr geträumt. Der triumphierende Heimkehrer, der weitgereiste Mann in Kleidern aus teurem Tuch würde seine glühende Freude nicht zeigen, sondern, wie es sich für einen erfolgreichen Kaufmann gehörte, ruhig und gerade an der Reling stehen. Und dann, wenn er sie dort unten sah, würde er sein klopfendes Herz bezähmen und nur würdig die Hand zum Gruß heben.
Immer wieder hatte er sich die Szene seiner Rückkehr ausgemalt. Würdig wollte er sein, vor allem würdig.
Und nun schlich er an Land wie ein Dieb.
Je weiter das Schiff die Elbe hinaufgesegelt war, umso beklommener hatte er sich gefühlt. Nur der Kapitän wusste, wer er war. Für die Matrosen blieb er irgendein reicher junger Herr, der von einer langen Bildungsreise quer durch Europa heimkehrte. Er lächelte. Selbst wenn er für eine solche Reise Muße gehabt hätte, gab es keine Familie, die sie ihm bezahlen konnte.
Er sah sich noch einmal vorsichtig um, dann machte er sich auf den Weg zum Neuen Wandrahm. Sicher würde Herrmanns noch in seinem Zimmer an dem großen Eichentisch sitzen, und wenn er schon schlief, würde Blohm ihn eben wecken müssen.
Eine kalte Bö fegte von der Elbe herüber. Er wickelte sich fester in seinen Mantel und machte größere Schritte.
War da nicht jemand hinter ihm? Er blieb stehen und lauschte in den auffrischenden Wind. Aber da war nichts. Er hatte nur sein eigenes Echo gehört. Rasch ging er an dem sechsstöckigen Steinhaus der Hannoverschen Poststation vorbei über die Hohe Brücke. Der Klang seiner Stiefel auf den alten Bohlen erschien ihm laut wie Kanonendonner. Er drückte sich in den Schatten des Neuen Krans und hielt den Atem an.
Nur das Wasser gluckste leise am Ufer.
Jetzt war es nicht mehr weit. Nur noch die Mühren hinauf, bei St. Katharinen über die Jungfernbrücke mit ihren gelb glimmenden Rüböl-Laternen, dann konnte er das reiche Portal des Hauses schon sehen.
«Ruhig», flüsterte er, «ganz ruhig. Alles ist gut.»
Die Angst umklammerte ihn wie eine Faust.
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