Tod am Zollhaus
trotz des kalten Wetters zwei Besuche zu machen.
Christoph Gottlieb Holländer fror und schwitzte zugleich. Es hatte schon in der Nacht begonnen. Er hatte seine Frau geweckt und eine zweite Decke befohlen, aber die hatte nicht viel genützt. Zwar war er irgendwann wieder eingeschlafen, aber am Morgen schmerzte sein Kopf, die Gelenke waren steif, und der Gedanke an ein gutes Frühstück mit Gerstensuppe und gebratenen Eiern auf Speck bereitete ihm Übelkeit.
Die Influenza, dachte er und sagte seiner Frau, er habe eben zu viel gearbeitet. Sie würde nur nach dem Arzt schreien, den fürchtete er mehr als den Zahnreißer.
Gegen Mittag gab er auf. Doktor Kletterich ließ ihn zur Ader, das Messer war natürlich wieder nicht ordentlich geschärft, verordnete strenge Bettruhe, kalte Wickel und viel Schlaf. Er legte ein Säckchen mit Kräutern auf den Tisch, aus denen die Köchin einen starken Tee für den Kranken bereiten sollte.
«Wie lange?», fragte der und klapperte im Schüttelfrost grimmig mit den Zähnen.
«Das weiß Gott allein. Haltet Euch warm, lasst die Fenster fest verschlossen und betet. Wenn das Fieber steigt, lasst Euch ein feuchtes Tuch auf die Stirn legen, aber nicht zu lange. Das wird schon helfen, Gott ist gerecht.»
Kletterich war ein frommer Mann.
Christoph Gottlieb Holländer betete für gewöhnlich nur am Sonntagmorgen, wenn er mit seiner Frau und den sieben Kindern in die Kirche ging. Sonst hielt er es mehr mit der irdischen Gerechtigkeit. Er war erster Richter am Niederngericht, ein strenger Mann, und gerade in diesen Tagen wurde er für einen großen Prozess gebraucht. Andere Prozesse mochten wichtiger sein, aber kaum einer würde so viel Aufsehen erregen.
Seit Tagen stellte er sich die gierige Menge vor, die darauf wartete, dass er, Christoph Gottlieb Holländer, Recht sprach und den Komödianten zum Tode am Galgen verurteilte.
Was für ein Spektakel! Zu Tausenden würden die Leute in Lumpen oder in Seide, auf Holzpantinen oder in gut gepolsterten Kutschen durch das Steintor hinaus zum Galgenfeld bei der Vorstadt St. Georg drängen. Wie immer, wenn einer gehenkt wurde, hatten die Schulkinder frei und fanden Platz in der ersten Reihe, damit sie erlebten, wohin ruchlose Taten führten.
Vielleicht würde er den Halunken auch aufs Rad flechten lassen. Das würde die Menge verdoppeln.
Der Mann in der Fronerei war schuldig. Er würde ihn schon zum Reden bringen, diesen schmierigen Komödianten. Im vergangenen Jahr hatte er ihn in der Komödienbude über die Bretter springen sehen. Nicht dass es ihm Vergnügen bereitet hatte, aber er, der oberste Richter, musste wissen, worüber sich das Volk amüsierte. Dreimal hatte er dieser schweren Pflicht entsprochen, und wenn er ein wenig enttäuscht war, weil das Spiel auf der Bühne nicht halb so unzüchtig war, wie man ihm zugeflüstert hatte, so sprach er nicht darüber. Sodom und Gomorrha, hatte er seiner Frau berichtet und streng verboten, dass sie, wie einige ihrer würdelosen Freundinnen, die Komödienbude besuchte. Auch wenn das Theater neuerdings in einigen Kreisen als sittliches Amüsement galt – er schätzte keine neuen Moden.
Das Volk hatte zwar die Verse des Prinzipals nicht so beklatscht wie die derben Späße des dicken Hanswursts und die Beine der Balletteusen in fleischfarbenen Strümpfen, aber wenn der Komödiant vor seinem Richterstuhl stand, würde es ihnen egal sein, ob er Teufel, König oder griechischer Gott gewesen war. Das Gericht war Holländers Bühne, hier war er König. Der Komödiant hatte jetzt nur noch eine Rolle, die des Büßers. Es würde seine letzte sein.
Und nun lag er, Holländer, mit der Influenza im Bett wie ein altes zahnloses Weib, mit diesem Fieber, das in den letzten Wochen in den Höfen und Buden um St. Michaelis und St. Jakobi dem Tod kräftig zugearbeitet hatte. Was suchte die Influenza in seinem Haus? Gott war gerecht? Gott konnte sich auch einmal irren.
Christoph Gottlieb Holländer war wütend. Er schwor sich, dass er, egal, wie hoch das Fieber stieg, nicht zulassen würde, dass ein anderer Richter diesen schönen Prozess, dieses größte Spektakel seit langem, an sich reißen würde.
Der Prozess gegen den Mörder von Herrmanns’ Schreiber musste warten, bis er wieder gesund war. Und wenn es Wochen dauerte.
«Linde!»
Die Frau des Richters stellte seufzend ihre Kaffeetasse auf den Tisch. Sie hatte gehofft, dass er endlich schlief und sie und ihren Haushalt für eine kleine Stunde in
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