Tod am Zollhaus
er drehte sich um und zeigte zornig auf das sanft lächelnde Portrait, «und dann Maria. Ich habe sie geliebt, ich! Für ihn war sie nur ein gutes Geschäft. Mit Maria wäre mir alles gelungen. Sie hätte den Menschen aus mir gemacht, den sie aus Claes gemacht hat. Glaubt Ihr, er ist besser als ich? Er hatte Maria. Maria war ein Engel. Sie hat mich geliebt, aber sie hat gehorsam den geheiratet, den ihre Familie für sie ausgesucht hatte. Claes, den ältesten Sohn und reichen Erben. Und wenn Ihr glaubt, ich lasse zu, dass er noch einmal geliebt wird, habt Ihr Euch getäuscht!» Er riss ihr das Brusttuch vom Dekolleté und betrachtet sie aus schmalen Augen.
«Ihr seid keine Knospe mehr, Mademoiselle, aber immer noch schön.» Er hob ihr Kinn gegen das Licht.
«Eine süße, reife Frucht. Sieht er Eure Leidenschaft? Oder seid auch Ihr für ihn nur ein Geschäft. Seid Ihr Jungfrau?», flüsterte er heiser. «Ein wenig spät, aber Vieth wird das gern ändern. Claes soll keine wie Euch mehr haben. Oder wie Maria. Nie mehr. Er soll eine kalte Frau haben, wie ich. Zu Dirnen gehen, ohne Trost zu finden. Wie ich.»
«Eure Frau ist kalt? Bei einem wie Euch muss jede kalt sein. Lasst mich los!»
Mit aller Kraft stieß Anne ihn zurück und sprang auf. Der Raum drehte sich, plötzlich standen drei Karaffen seltsam verschwommen auf einem blassen Fleck, der eben noch ein Tisch gewesen war. «Ihr irrt», stieß sie schwer atmend hervor. «Claes weiß, wo ich bin. Meine Zofe ist schon bei ihm.»
Sie fror jämmerlich, und ihr Atem ging seltsam schwer. Ihre Beine gaben nach, sie sank zurück in den Sessel. Joachims Gesicht verschwamm zu einem tanzenden Fleck.
«Ihr müsst jetzt nicht mehr lügen.»
Seine Stimme kam von ferne und hallte seltsam.
«Und selbst wenn er Euch tatsächlich sucht, wird er zu spät kommen. Wusstet Ihr, dass Maria verbrannt ist? Er hat sie nicht gerettet, er wird auch Euch nicht retten.»
Die letzten Worte hörte Anne wie ein dumpfes Murmeln aus weiter Ferne. Das Gift in ihrem Wein hatte gewirkt.
«Vieth», schrie Joachim, «komm rauf!»
«Psst!» Rosina legte den Kopf schief und lauschte angestrengt.
«Das ist nur der Wind», flüsterte Sebastian. «Bei dem Wetter kriecht hier niemand rum. Und auf die Krögerin und die Kinder wird Lies schon achtgeben.»
«Aber ich habe bestimmt etwas gehört.»
«Na gut», brummte Titus und rappelte sich von seinem bequemen Lager im Heu auf. Er öffnete behutsam die Stalltür und steckte den Kopf hinaus.
Eine Weile waren alle still und lauschten. Aber nur der Wind und das gleichmäßige Rauschen des Regens waren zu hören.
«Lies leise weiter, Sebastian», flüsterte Helena. «Das kann draußen sowieso niemand verstehen. Der Regen ist viel zu laut.»
Behrmanns Brief war schwer zu entziffern. Als Schreiber hatte er sicher eine akkurate Handschrift gehabt, aber diese Zeilen waren ganz offensichtlich in großer Erregung geschrieben worden.
«Lies den letzten Absatz noch mal. Nachdem er erklärt hat, dass der alte Herrmanns sein Vater war und dass er sich immer gewünscht hatte, für das Haus Herrmanns zu arbeiten.» Rosina schüttelte zweifelnd den Kopf. «Ein komischer Kerl, demütig wie ein Mönch. Ich an seiner Stelle hätte so viel Abstand zwischen mich und diese bigotte Gesellschaft gebracht wie nur möglich.»
«Vielleicht war er nicht so stark wie du», sagte Gesine sanft. «Jeder braucht eine Familie oder andere Menschen, zu denen er gehört. Wir haben einander, aber er hatte nach dem Tod seiner Mutter und seiner Tante niemanden mehr.»
Rosina schwieg, und Sebastian hielt den Briefbogen wieder an die Kerze.
«Also, den letzten Absatz noch mal.» Mit zusammengekniffenen Augen und gesenkter Stimme fuhr er fort, Behrmanns Brief an Claes Herrmanns vorzulesen.
«Ich weiß heute nicht mehr zu sagen, welcher Teufel mich ritt, als ich mich gegen Euch verbündete. Ich schwöre bei Gott, dass ich Euch und allen Mitgliedern Eures Hauses nie an Leib und Leben schaden wollte. Dass ich trotzdem so schuldig geworden bin, lässt mir mein Dasein wie eine unerträgliche Last erscheinen.
Zuerst, als ich von Lübeck nach Hamburg kam, wollte ich zu Euch gehen und meine Herkunft offenbaren. In den Straßen sprach man von Euch als von einem strengen, aber auch gütigen und gerechten Herrn. Ich wollte, dass Ihr wisst, wer ich bin. Warum? Ich weiß es nicht, es schien mir das Wichtigste in meinem Leben zu sein. Ich kannte meinen Vater nicht. Meine Mutter offenbarte
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