Tod am Zollhaus
mir ihr Geheimnis erst wenige Stunden vor ihrem Tod. Sie war ihm immer dankbar. Andere Herren hätten sie ins Spinnhaus geschickt, und ich wäre im Waisenhaus verdorben. Ich verdanke mein gutes Leben Eurem Vater. Erlaubt, wenn ich hier endlich sage: unserem Vater.
Heute weiß ich, dass ich heimlich darauf hoffte, von Euch als Bruder anerkannt zu werden. Ich wollte nichts fordern, keine Rechte, keine Güter. Ich weiß sehr wohl, dass mir nichts zusteht. Ich wollte nur zu Eurem Haus gehören. Als Ihr mich zu Eurem Schreiber machtet, war ich der glücklichste Mensch. Ich nahm mir vor, Euch zu beeindrucken, Euch mit meiner Leistung und meinem Gehorsam für mich einzunehmen. Dann wollte ich einen günstigen Tag abwarten, um mich zu offenbaren.
Ich weiß, dass Ihr meine Arbeit immer anerkannt habt. Aber schon bald verließ mich der Mut. In der Stadt sind die Menschen anders als in den Dörfern vor den Mauern. Es heißt, sie seien freier im Geist, aber mir scheint, sie sind grausamer. Ich hörte die üblen Reden in den Schenken und auf den Märkten. Da verkehrt viel gemeines Volk. Aber auch in der Börse gilt eine böse Geschichte über einen Konkurrenten oder Partner immer mehr als eine freundliche.
Ihr gehört nicht zu denen, die solche Nachrede verbreiten oder auch nur anhören, aber ich vergaß, das zu bedenken.
Trotzdem wartete ich immer noch auf einen günstigen Tag, um Euch als Bruder anzusprechen. Doch dann kam dieses Mädchen, erinnert Ihr Euch? Sie stand eines Tages im Kontor, reinlich gekleidet, ein wenig zu sehr geputzt vielleicht, aber sie schien mir nicht verderbt.
Ihr ließet sie in Euer Kontor, und bald hörten wir harte Worte und Geschrei. Dann ging Eure Tür auf, und Ihr schobt das Mädchen mit zorniger Kraft über die Diele und auf die Straße. Sie fiel in die Gosse. Ich habe Euch nie so zornig gesehen.
Erinnert Ihr Euch? Schon am nächsten Tag sprach man in der Stadt davon, wer sie war. Sie war die Tochter einer Goldstickerin und, so behauptete sie, Eures Vaters.
Später hörte ich, sie sei aus gleichem Grund auch bei anderen Handelsherren gewesen. Wahrscheinlich wart Ihr so zornig, weil Ihr sie als Betrügerin kanntet. Aber damals sah ich nur, dass Ihr eine, die vorgab, Eure illegitime Schwester zu sein, in die Gosse stießt.
Ich hätte es nicht ertragen, wenn Ihr das gleiche mit mir getan hättet. Auch wenn Ihr es nie bemerkt habt, ich liebe und verehre Euch wie einen Bruder, fast wie einen Vater. Ihr steht so hoch über mir …»
«Hör auf!» Rosina sprang wütend auf. «Das kann man ja nicht aushalten! Ist Herrmanns Gott? Wie kann einer so vor seinem Herrn im Dreck kriechen? Egal, ob er sein Halbbruder oder der Kaiser von Brasilien ist. Der hat seinen Reichtum nicht vom Beten und Verteilen milder Gaben. Der ist genau wie alle anderen reich und mächtig geworden, weil …»
«Ist ja gut, Rosina», Helena zog sie zurück auf den Heuballen. «Behrmann hat eben so gefühlt. Wir müssen das ja nicht verstehen. Lass Sebastian jetzt weiterlesen.»
«Und wenn du wieder schreien willst», fügte Titus hinzu, «dann schrei leise. Los, Sebastian. Mir ist kalt, und ich will endlich wissen, wie’s ausgeht.»
Sebastian las weiter:
«Ihr steht so hoch über mir, dass …
Die nächsten Worte kann ich nicht entziffern.
Aber ein Stachel muss geblieben sein,
schreibt er dann weiter. Immerhin.
Es schmeichelte mir, als Joachim van Stetten mich an der Börse zum ersten Mal ansprach. Von da an kreuzte er oft meinen Weg. Später, als er mich schon in seine Ränke verstrickt hatte, trafen wir uns in einer dunklen Kellerschenke in der Neustadt.
Es ging mir nicht gut in jener Zeit. Ich habe es Euch nie merken lassen, aber Euer Freund sah es in meinem Gesicht. Manchmal gab er mir ein Fläschchen mit Laudanumsaft, damit ich besser schlafen konnte. Zuletzt brachte er zu jedem Treffen so ein Fläschchen mit. Manchmal vergaß er es, und ich wartete mit zitternden Nerven, bis ich ihn das nächste Mal traf.
Ich muss mich sputen, die Kerze ist bald heruntergebrannt, und die Wirtin hat versäumt, einen Vorrat bereitzulegen.
Hinter van Stettens schöner, freundlicher Maske verbirgt sich ein teuflischer Mensch. Ganz langsam, Tropfen für Tropfen, flößte er mir das Gift von Neid, verletztem Stolz und blinder Rachsucht ein. Doch ich will mich nicht freisprechen. Wäre meine Seele so rein, wie ich glaubte, hätte er mich nicht zu seinem Werkzeug machen können.
Es war nicht schwer, Euch in den letzten Monaten
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