Tod an der Ruhr
mal jedem offen, überlegte Grottkamp. Und dass sich unter ehrbare Gäste mit ordentlichen Papieren gelegentlich auch übles Volk mischte, das ließ sich in einem Gasthaus, das nicht mal hundert Ruten vom Bahnhof entfernt lag, wohl nicht vermeiden.
Seit der Inbetriebnahme der Bahnstation im Jahre 1856 hatte die Eisenbahn das Leben im Dorf beinahe so nachhaltig verändert wie das Hüttenwerk. Die Gutehoffnungshütte zog die Fremden an, und die Eisenbahn brachte sie in geradezu atemberaubender Geschwindigkeit hierher.
Dass den Waggons nicht nur Menschen entstiegen, die Arbeit suchten oder auf einen guten Abschluss hofften, war fraglos nicht Hubertus Küppken anzukreiden. Doch Grottkamp verübelte ihm, dass er Gesindel allzu bereitwillig beherbergte, wenn es ihm nur ein paar Groschen einbrachte.
Die beiden jungen Frauen, die auf der Bank neben dem Fenster tuschelnd die Köpfe zusammensteckten, hielt Martin Grottkamp für Gäste der weniger feinen Sorte. Dafür hatte er einen Blick. Ein unbedarfter Beobachter hätte sie in ihren hoch geknöpften Flanellkleidern für Dienstmägde halten können. Aber eine Dienstmagd trank zur Mittagszeit keinen Branntwein in einem Gasthaus, sie legte in einer Arbeitspause ihre Schürze nicht ab, und sie trug gewöhnlich Holzschuhe.
Die jungen Frauen auf der Bank hatten geschnürte Lederschuhe an den Füßen und zeigten diese recht kokett her. Beide hatten ihre Beine übereinandergeschlagen, so dass man die fein gewebten Strümpfe der einen und die Spitzen des weißen Unterkleides der anderen sehen konnte. Was Grottkamp vollends misstrauisch machte, waren die Seidenschals, die beide um ihre Schultern geschlungen hatten. So zeigten sich wohlanständige Frauen nicht an einem Montagmittag in der Öffentlichkeit.
Küppken war inzwischen wieder hinter den Tresen zurückgekehrt und signalisierte Grottkamp, dass er noch eine kleine Weile auf seine Bratkartoffeln warten müsse. Der winkte den Klumpenwirt an seinen Tisch.
»Setzen Sie sich kurz zu mir, Küppken!«
Der Wirt wischte seine feuchten Hände an der blauen Schürze ab, die sich über seinen Bauch spannte. »Immer zu Diensten, Herr Sergeant«, murmelte er, rückte einen Stuhl zurecht und setzte sich Grottkamp gegenüber. »Ich hab mir schon gedacht, dass Sie nicht allein der Hunger hierher getrieben hat. Zum Essen waren Sie ja noch nie bei mir.«
»Besonders beliebt scheint Ihre Küche auch nicht zu sein«, stellte Grottkamp angesichts der wenigen Gäste fest, von denen offenbar keiner hier war, um zu speisen.
»Mittags läuft heutzutage nicht mehr viel, Herr Polizeisergeant. Die Leute haben keine Zeit mehr. Die Einheimischen können erst kommen, wenn sie Feierabend haben, die Fuhrleute treffen meistens erst ein, wenn es dunkel wird, und die Fremden, die hier logieren, die sehe ich tagsüber nur selten. Nein, Herr Sergeant, gegessen wird hier erst am Abend.«
»Nicht nur gegessen«, knurrte Grottkamp.
»Wollten Sie mit mir übers Geschäft reden?«, fragte der Klumpenwirt schnippisch.
»Wir könnten auch über die beiden jungen Damen da drüben reden«, konterte Grottkamp.
Küppken wirkte für einen Augenblick verlegen. »Ich weiß nicht, was Sie meinen.«
»Ich meine, dass es vielleicht richtig wäre, die Identifikationspapiere der Weibspersonen zu überprüfen.«
»Aber Herr Sergeant, sie sind erst mit dem Frühzug angekommen. Und jetzt machen sie halt eine kleine Pause, bevor sie sich nach Arbeit umsehen«, beteuerte der Wirt.
»Sagen Sie den beiden, dass ich sie einer polizeilichen Überprüfung unterziehen werde, wenn sie mir noch einmal unter die Augen kommen.«
»Geht klar, Herr Grottkamp!«
»Na gut. Dann reden wir mal über Julius Terfurth.«
»Um Gottes willen, der arme Kerl. Ich habe schon gehört, dass er tot ist.« Martin Grottkamp hatte das Gefühl, dass Hubertus Küppken wirklich betroffen war.
»War er gestern hier?«
»Ja, den ganzen Abend.«
Grottkamp nickte zufrieden. Es war also so, wie er es vermutet hatte. »Und mit wem war er zusammen?«, wollte er vom Klumpenwirt wissen.
»Mit allen und mit niemandem. Der Terfurth war eigentlich immer allein hier, so wie die meisten übrigens. Dann hat er mal mit diesem und mal mit jenem zusammengestanden und ein paar Worte gewechselt. Oft hat er da auf der Bank gesessen.«
»Und mit wem hat er sich gestern unterhalten?«
»Ich weiß es wirklich nicht so genau. Es war ziemlich voll gestern Abend. Also, er hat mal vor dem Tresen gestanden und mit einigen
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