Tod Auf Dem Jakobsweg
Notizen leserlich machen, die Fakten und Vermutungen sortieren, abwägen und nicht zuletzt überlegen, wen er unter den Kollegen in Santiago gut genug kannte, um ihn schnell und ohne Einhaltung des Dienstweges zu überzeugen. Leider war Josep, ein alter Freund aus der Zeit ihrer Ausbildung, im Urlaub auf den Azoren. Wandern, ausgerechnet.
Die Pizza war so scheußlich, wie er erwartet hatte, also genau richtig. Neben seiner Schwäche für gute Küche pflegte er eine heimliche für klebriges, ungesundes Fastfood.
Bisher war es ihm gelungen, das vor den Kindern zu verbergen.
Bei Fastfood dachte er an Prisa, der sich von nichts anderem ernährte. Plötzlich hatte er es sehr eilig.
Wie immer saß Hedda auch während der Fahrt nach Portomarín auf Leos Nachbarbank, doch sie hatte ihr den Rücken zugewandt und sah aus dem Fenster. Seit Nina wieder zur Gruppe gehörte und sich Leo eng angeschlossen hatte, hatte ihre vorsichtig wachsende Zutraulichkeit ein abruptes Ende gefunden.
Es sei nett, dass sie sich Ninas annehme, hatte Jakob Leo zugeraunt, in ihrer Situation brauche man Begleitung. In diesem Moment hätte sie ihm beinahe erzählt, warum Benedikts Freundin stets in ihrer Nähe war, welches Geheimnis sie teilten. Anders als Nina, die in allen Mitreisenden einen potenziellen Feind argwöhnte, vertraute Leo Jakob völlig. Ihn nicht wissen zu lassen, was wo- möglich in seiner Gruppe geschehen war, empfand sie als Betrug.
Nina saß wieder auf der Bank weit vorne, die sie mit Benedikt geteilt hatte. Es sah aus, als schlafe sie. Obanos’ Bereitwilligkeit, ihre Geschichte zu glauben, vor allem, dass er in Santiago war, hatte ihre Last erleichtert. Nach den letzten angstvollen Nächten und der Anstrengung des Tages würde sie nun wieder leichter einschlafen.
Durch den Bus schwirrten Gespräche, alle hatten sich von der Erschöpfung, mit der sie in O Cebreiro angekommen waren, erholt. Allein der Blick von der anderen Seite des auf dem Grat gelegenen Dorfes weit über Galicien hatte sie für den Aufstieg belohnt. Die Pilger früherer Jahrhunderte mochten ergriffen niedergekniet sein, dankbar, die lange, beschwerliche Reise bis hierher überlebt und nur noch wenige Tage bis zum Ziel vor sich zu haben, der heilbringenden Reliquie. Allerdings wartete dann noch die Rückreise, anders als moderne Pilger, die einfach in ein Flugzeug oder eine Bahn stiegen, für die allermeisten wieder auf den eigenen Füßen und gefahrvollen Wegen.
Für die römischen Legionen waren O Cebreiro und der gleichnamige Pass Durchgangsstation auf ihrem Weg in das zentrale Galicien gewesen, für die Jakobspilger seit den Anfängen des camino rettender Hort in einer unwirtlichen Region mit einem der ersten Hospize. Alte Schriften verzeichneten das oft sturmumtoste Dorf auch als Mons Februari, denn in rauhen Jahren konnte hier selbst im Mai noch Februarwetter mit Nebel und Schneetreiben herrschen. Dagegen war dieser erschöpfend heiße Tag reines Glück gewesen.
In dem Bergdorf waren noch einige pallozas erhalten, die in die Erde geduckten, ursprünglich fenster- und schornsteinlosen, runden oder ovalen Steinhütten. Ihre zum Teil spitz zulaufenden Strohdächer reichten fast bis zum Boden. Es hieß, diese Bauweise sei in der Region schon vor dreitausend Jahren üblich gewesen.
Nach dem Picknick — wie gewöhnlich gab es Paprikaschoten, Äpfel, Tomaten, Schafskäse, chorizo und Brot, für den Nachtisch hatte Enno im Dorf eiskalte Wassermelonen aufgetrieben und spendiert — fanden sich alle in der Kirche ein. Wegen der Kühle hinter den alten Steinen und der Zeugen eines Blutwunders, das sich im 14. Jahrhundert ereignet und O Cebreiro erst weithin berühmt gemacht hatte.
Niemand außer der deutschen Wandergruppe war in der Kirche. «Reines Glück», erklärte Jakob zufrieden, «an den Wochenenden wimmelt es hier nur so von Tagestouristen aus der Region Dann bekommt man den Santo Grial do Cebreiro den Heiligen Galicischen Gral, vor lauter Köpfen kaum zu sehen.»
Die Kirche Santa María la Real, die Königliche, war als eine der ersten am camino im frühen 9. Jahrhundert bei den pallozas erbaut worden. Nachdem sie Wetter, Feuer und zahlreiche Umbauten schwer angeschlagen überlebt hatte, war sie als bescheidener Rest eines Klosters erst vor einigen Jahrzehnten restauriert worden. Ein bisschen zu gründlich, wie manches am Jakobsweg. Gleichwohl ließen die niedrigen vorromanischen Bögen und das Fehlen jeglichen aufwendigen Schmucks die einstige
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