Tod Auf Dem Jakobsweg
den Sohn ihres Bruders war echt. Oder wuchs die Sorge um Fredo nur aus ihrem Schuldgefühl, aus dem verzweifelten Bemühen, ihre Tat wiedergutzumachen? Auch das war lächerlich. Nina kam bei allen Verdachtsmomenten nicht in Frage.
Eva, Caro, Edith, Selma? Ausgeschlossen. Oder? Es blieb bei ausgeschlossen.
Sven und Helene? Die waren bei Jakob am Ende der auseinandergezogenen Karawane gewesen. Oder? Es war ein Versäumnis, dass sie nicht notiert hatte, wer in jener Stunde wo gegangen war.
Fehlte noch Hedda. Sie schien harte Zeiten erlebt zu haben, davon zeugten die Narben auf ihren Armen, die schlechte Tätowierung wies auf eine Jugendbande hin. Das musste lange her sein. Sie war Anfang, eher Mitte dreißig, die Narben waren nicht frisch. Und Hedda war ganz sicher hinter ihr gewesen, als sie Benedikt in der Schlucht entdeckte. Das Klackern ihrer Stöcke hatte an jenem Aufstieg stets verraten, wo sie sich gerade befand. Nur in den letzten Tagen hatte sie die Stöcke nicht mehr benutzt.
Leos Kopf schmerzte, wie immer, wenn ihre Gedanken im Kreis laufend vergeblich nach einem Punkt suchten, an dem einzuhaken war. Und sie war sehr müde.
Der Bus fuhr nun an dem zum langgezogenen Belesar-See aufgestauten Fluss entlang, das tiefblaue Wasser glitzerte einladend, er rollte langsam über die lange Brücke, und Portomarín war erreicht.
Schon seit der Römerzeit hatte es hier eine Brücke über den Río Miño gegeben, den pons minei, dem der Ort seinen Namen verdankte. Im frühen 13. Jahrhundert war sie von den Johannitern, den Nachfolgern der Templer als Beschützer des Camino, für die wachsenden Pilgerströme durch eine neue ersetzt worden. Die seither gewachsene alte Stadt verrottete seit fast fünfzig Jahren im Stausee, bei Niedrigwasser ragten ihre Reste wie düstere Gespenster aus der Tiefe auf. Einige wenige Gebäude waren vor der Flutung Stein für Stein abgebaut und mit dem neuen Portomarín auf dem Hügel über dem See wieder aufgebaut worden, insbesondere die kleine romanische Templerkirche San Juan de Jerusalén. An ihrem neuen Standort hoch über dem See und am Rand des Ortes wirkte sie verloren, ein stoisch wehrhafter Fremdkörper aus der untergegangenen mittelalterlichen Welt.
Das Hotel für diese Nacht lag am Ende des Ortes. Sein Interieur zeigte den verstaubten Charme der 80er Jahre, der leere Pool, dass in dieser an Sehenswürdigkeiten armen Station nur noch wenige Gäste pausierten. Die wandernden Pilger fanden Bett, Verpflegung und gleichgesinnte Gesellschaft in der großen Herberge mitten im Ort in der Calle Fraga Iribarne, wenn sie nicht gerade, wie oft im Sommer, völlig überfüllt war. Auf die Nähe zu Santiago verwies nicht nur das Mosaik mit dem Bild des Heiligen in der Hotelhalle, auch das Dach eines Wartehäuschens neben dem Parkplatz zierte ein Kreuz. Fußmüden Pilgern, die hier zur Erleichterung einer der letzten Etappen in den Bus stiegen, mochte das eine Mahnung sein. Oder eine Absolution, wer konnte das wissen?
Vom Fenster ihres Zimmers in der zweiten Etage sah Leo über einen malerisch verwilderten, von alten Bäumen beschatteten Garten und den See weit in das Land. An der Hecke entdeckte sie Sven und Helene, schon stadtfein gemacht, Nina trat zu ihnen und sah mit suchendem Blick zu ihr herauf.
«Wir wollen uns die Wehrkirche ansehen und einen Spaziergang durch den Ort machen», rief sie, als sie Leo am offenen Fenster entdeckt hatte. «Kommst du mit?»
«Noch nicht. Ich komme später nach. Finde ich euch bei einem ersten Glas Wein unter den Arkaden? »
«Mich ganz sicher», rief Sven. «Ich brauche eine Kirchenpause.»
Leo sah ihnen bis zum Ende der Hotelanlage nach, dort gesellten sich die beiden Müllers zu ihnen. Dann verschwanden sie aus ihrem Blickfeld.
, hatte Inspektor Obanos gesagt,
Vier waren mehrere, und was sollte hier passieren? Dies war eine sehr kleine Stadt, aber alle Geschäfte waren geöffnet, die Tische der Straßencafes besetzt, unter den Arkaden um den Rathausplatz traf sich um diese Stunde alles, ob Pilger, Autoreisende oder Einheimische, um durch den milden Abend zu flanieren. San Juan stand gleich gegenüber.
Leo starrte das Telefon auf dem Nachttisch an und ließ sich verdrossen aufs Bett fallen. Wieder keine Nachricht, kein Fax von Johannes. Sie wählte die Nummer der Hamburger Redaktion, seinen Privatanschluss, seine Handynummer — weit und breit kein Johannes. Der Himmel wusste, wo er sich herumtrieb.
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