Tod Auf Dem Jakobsweg
Gehenkten gestützt, sodass er am Leben blieb. Sofort eilten die Eltern zum Richter, der sich gerade an einem gebratenen Hahn und einer gebratenen Henne gütlich tun wollte. Falls diesen beiden wieder Flügel wüchsen, spottete er, und der Hahn krähte, wolle er das glauben. Sogleich wuchsen die Flügel, der gebratene Hahn begann zu krähen, und so geschah es, dass der Heilige für Recht sorgte und die Familie ihre Pilgerreise zum Jakobus-Grab vollzählig fortsetzen konnte.
«Wem der Hahn in diesem Käfig nun etwas kräht», ergänzte Jakob, «dem ist das Glück auf der weiteren Pilgerreise hold.»
Leider blieb der Hahn an diesem Tag stumm.
Dr. Helada holte den Inspektor an der Tür zur Intensivstation ab. Obanos musterte ihn so verstohlen wie zufrieden. Der Arzt war zwar einen halben Kopf größer als er, sicher um ein Jahrzehnt jünger, doch sein mattes nussbraunes Haar über dem schmalen Gesicht war schlecht geschnitten, sein Rücken leicht gebeugt, und sein Körper wirkte unter dem unförmigen Kittel mit den ausgebeulten Taschen eher hager als gut trainiert. Pilars auffällige Sympathie für diesen unauffälligen Mann musste ihre Ursache in rein mütterlichen Gefühlen haben.
«Nett, dass Sie gleich gekommen sind.» Dr. Helada streckte ihm die Hand entgegen.
«Nett, dass Sie angerufen haben. Bei Ihren Kollegen geht eine ganze Menge als Unfall durch, was keiner war.»
«Möglich.» Dr. Helada hob bedauernd die Hände. «Eigentlich achten wir sehr auf solche Dinge, manchmal übersieht man eben etwas. Einfach, weil zu viel zu tun ist. Und weil man keinen Argwohn hat. Wie bei Señor Siemsen. Er ist einen felsigen Abhang hinuntergestürzt, so was kommt in den Bergen vor, er hat Brüche, Platz- und Schürfwunden, zudem hat ein Ast oder Wurzelstrunk seine Lunge verletzt. Er liegt im Koma, ein paar eher unscheinbare Hämatome mehr oder weniger können da in der Hektik schon mal unbeachtet bleiben. Wir sind nicht die Gerichtsmedizin. Doch kommen Sie. Der Moment ist günstig, Luzia hat seine Mutter davon überzeugen können, dass sie für eine halbe Stunde in die Kantine gehen soll. Ich hoffe, Señora Siemsen ist vernünftig und isst etwas.»
«Seine Mutter? Aus Deutschland? Sie ist hier?»
«Ja, sie ist gestern angekommen und sitzt, wann immer wir sie lassen, an seinem Bett. Das ist hilfreich, aber auch Koma-Patienten brauchen mal Ruhe.»
«Und wer ist Luzia? Seine Frau?»
Dr. Helada lächelte. «Er ist nicht verheiratet. Allerdings hat er eine Verlobte, die auch schon hier war. Luzia ist — nun, Sie werden sie gleich kennenlernen.»
Er eilte mit raschen, leises Quietschen erzeugenden Schritten über den Flur voraus. Obanos kam sich albern vor, als er ihm sozusagen mit gerafften Röcken folgte und im Gehen versuchte, den sperrigen Stoff über den Bindegürtel hochzuzerren. Der sterile Kittel, den eine der Schwestern ihm im Vorraum gegeben hatte, war für einen Riesen mit dem Umfang einer Tonne gemacht.
Die Wände zu den Zimmern bestanden zur Hälfte aus Glas, die meisten Türen waren geöffnet, doch Obanos blickte starr geradeaus auf den Rücken des Arztes. Erst vor wenigen Monaten war sein Vater in einem dieser Zimmer gestorben. Es reichte, wenn er heute einen Schwerkranken sehen musste, den Anblick der anderen, besonders der alten Männer, konnte er sich ersparen.
Benedikt Siemsen lag in dem Bett am Fenster, das zweite war frisch bezogen und leer. Obwohl eine weiße Jalousie die Sonne aussperrte, wirkte der Raum licht, und die schnarrenden und piepsenden Geräusche der Apparaturen um das Kopfende des Bettes unterstrichen die Stille mehr, als dass sie sie aufbrachen. Obanos dachte an seine heimlich geliebte Fernsehserie über das Raumschiff, das auf der Suche nach dem Weg zurück zur Erde durch die unendlichen Weiten des Alls flog. Ein sentimentaler Gedanke, gewiss, doch auch dieser junge Mensch zwischen den weißen Tüchern erschien ihm wie ein Verirrter auf der verzweifelten Suche nach einem Weg zurück durch die Wirrnis seiner Albträume. Zurück ins Leben. Das hoffte Obanos. Die Verlockung, einfach aufzugeben, sich in die Unendlichkeit fallen zu lassen und aller Angst, allem Schmerz zu entkommen, musste in diesem Zustand nahe dem Tod groß sein.
«Er wird beatmet», erklärte Dr. Helada und wies auf das Gerät am linken Kopfende, in dem sich eine wie bei einem Kinderlampion gefältelte Manschette schnaufend auf und ab bewegte. Der Monitor darüber zeigte in leuchtend gelben Linien das
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