Tod Auf Dem Jakobsweg
festgestellten Räder protestierten quietschend, und er sah sich lieber nicht nach Schwester Luzia um. Er konnte sich ihren Blick vorstellen, er spürte ihn in seinem Rücken.
Dr. Helada lehnte gegen eine Fensterbank im Flur und sah ihm amüsiert entgegen. «Lassen Sie sich nicht täuschen. Luzia ist ein Juwel. Auch wenn diese Meinung nicht alle teilen. Sie wäre eine verdammt gute Ärztin geworden, leider muss eine Nonne tun, was ihr Orden für sie entscheidet. Aber nun sagen Sie, was halten Sie von meiner Vermutung?»
«Sie hat etwas für sich. Obwohl ich es — sagen wir mal — ziemlich absurd finde, dass jemand versucht, einen frommen Jakobspilger umzubringen. Im Mittelalter, als die bußfertigen Männer mit dem Wanderstab noch einen Batzen Geld mit sich trugen, um ihre monatelange Reise zu finanzieren, hat sich das gelohnt, aber im 21. Jahrhundert? Die haben doch nur ein paar Euro und ihre Kreditkarte in der Tasche. So was raubt sich leichter und mit weitaus geringerem Aufwand im Gedränge jeder Stadt. Da müsste es einen ganz anderen Grund gegeben haben.»
«Das Motiv ist Ihr Problem, Inspektor. Vielleicht gab es Streit in der Gruppe. Eine Prügelei? Was weiß ich? Ich werde gerade Ihnen nicht erklären müssen, welch seltsame unberechenbare Wesen Menschen sind. Was machen wir nun?»
«Am besten schicke ich Ihnen jemanden von der Gerichtsmedizin. Die können jeden Kratzer zuordnen. Wissen Sie, wo diese Gruppe jetzt ist?»
«Sie erreicht heute Abend Burgos. Oder am Spätnachmittag. Ich habe mit dem Reiseleiter telefoniert, ein Señor Seifert, er scheint mir ganz vernünftig zu sein. Er will gleich herkommen, sobald er seine Leute in ihrer Unterkunft abgeliefert hat. Der Unfall — bleiben wir vorerst noch bei dieser Bezeichnung — ist in der Nähe von Roncesvalles passiert, am Montag.»
Es war etliche Jahre her, seit Obanos selbst auf dem Jakobsweg gepilgert war, für viele Spanier gehörte das zu den Abenteuern der Sommer ihrer jungen Jahre, aber er erinnerte sich noch genau — viel genauer als an alle anderen Reisen, wie lang der Weg und seine einzelnen Etappen waren. Damals war der camino noch eine echte Anforderung gewesen, nicht nur wegen der Steigungen und der Dauer. Anders als heute hatte es weder die perfekte Ausschilderung noch die vielen Trinkwasserstellen und Pilgerherbergen gegeben. Er hatte manche Nacht im Freien geschlafen. Und oft Durst gehabt.
Da er sich keinen sechs oder sieben Wochen langen Urlaub hatte leisten können, um den Weg ohne Unterbrechung zu bewältigen, hatte er seine Wallfahrt wie viele andere auch auf drei Sommer- Etappen verteilt. In Santiago de Compostela hatte ihn eine überraschende Traurigkeit erfasst. So, wie es manchmal geschieht, wenn man ein lange ersehntes, ob der Beschwerlichkeiten unterwegs sogar hin und wieder angezweifeltes und ungeliebtes Ziel erreicht und begreift, dass damit etwas Besonderes unwiederbringlich vorbei ist. So war er weitergelaufen, noch einige Tage bis ans Meer zum Cabo de Finisterre, der in den Atlantik ragenden Landzunge, die den Spaniern in alter Zeit als das Ende der Welt gegolten hatte.
Er gab es nicht gerne zu, aber vielleicht war er unterwegs wirklich zum Pilger geworden. Wie viele, vielleicht sogar die meisten der Jakobsjünger, hatte er sich versprochen, irgendwann den ganzen Weg von den Pyrenäen bis an den Atlantik noch einmal und ohne Unterbrechung zu gehen. Wenn ihm heute in der Stadt eines der Schilder mit der Muschel oder ein gelber Pfeil an einer Wand begegnete, dachte er manchmal daran, wohl wissend, dass er dazu erst sein Berufsleben abschließen musste. Dann wollte er sich mindestens zwei Monate Zeit nehmen, Mai und Juni, um unterwegs Muße zum Verweilen zu haben. Oder September und Oktober, der Herbst reizte ihn noch mehr. Vielleicht, dachte er in solchen Momenten mit einem Anflug von Melancholie, weil er dann im Herbst seines Lebens angekommen sein würde. Oder — an weniger melancholischen Tagen — weil er den Weg im Frühsommer schon kannte, die herbstliche Wanderung würde eine wirklich neue Erfahrung sein.
«Sie haben gesagt, die kommen heute schon in Burgos an? Und wieso ist Ihr Patient überhaupt hierhergebracht worden?», fuhr Obanos fort. «Warum nicht nach Pamplona?»
«Die Intensivstationen in Pamplona werden überfüllt sein. Sie haben sicher von dieser furchtbaren Explosion in der Düngemittelfabrik gehört? Jede Menge Schwerverletzte. Zu Ihrer ersten Frage: Diese Leute sind keine echten Pilger, die
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