Tod Auf Dem Jakobsweg
älter, sähen sie anders aus.»
«Moment. Wieso Deutschland?»
«Habe ich das nicht erwähnt? Er gehört zu einer deutschen Wandergruppe. Pilger, wenn Sie so wollen, auf dem Jakobsweg.»
Aus einem unerfindlichen Grund amüsierte Obanos die Vorstellung von Pilgern, die sich, den Stab in der Hand, die Jakobsmuschel am Hut, ein frommes Lied auf den Lippen, gegenseitig Abhänge hinunterstießen. Er war lange genug an der Costa Brava stationiert gewesen, um eine gesunde Abneigung gegen Touristen zu entwickeln. Nichts gegen Urlauber, nicht einmal gegen die aus dem kalten Norden Europas, solange sie nicht in unübersehbaren Massen auftraten, sich betranken und nach Pizza, Schnitzel und Diskotheken verjagten. Leider war es genau das, was sie Sommer für Sommer taten. Massenhaft. Zum Glück fast nur an Mittelmeerküste, die war von Burgos aus weit weg.
«Ich denke, Doktor, wir sollten uns gründlicher unterhalten. Sind Sie jetzt in der Klinik? Haben Sie in einer halben Stunde ein paar Minuten Zeit?»
«Natürlich, auch ein paar mehr. Ich bin froh, wenn Sie herkommen. Wahrscheinlich sehe ich Gespenster, aber ich möchte nichts versäumen. Sie verstehen das sicher.» Obanos vergaß, dass der Arzt ihn nicht sehen konnte, und nickte. «Was sagt denn Ihr Patient dazu? Oder haben Sie ihn nicht gefragt, woher er diese Blutergüsse hat?»
«Das würde ich nur zu gerne, glauben Sie mir. Dann hätte ich Sie womöglich gar nicht zu bemühen brauchen. Leider geht das nicht. Er liegt im Koma.»
«Das ist allerdings übel. Wann wacht er wieder auf? Was denken Sie?»
Am anderen Ende der Leitung seufzte es schwer. «Um ehrlich zu sein und meine Schweigepflicht für die Polizei weit zu dehnen: Ich habe keine Ahnung. Genau weiß man das ja nie, in diesem Fall bin ich froh, wenn er überhaupt wieder aufwacht.»
Das Frühstück in Santo Domingo de la Calzada war schlicht gewesen, was niemand überrascht hatte, denn die hospedería in der Calle Mayor wurde von Zisterzienserinnen betrieben, und am unteren Ende der Hierarchie sind Ordensleute nicht für Völlerei bekannt.
Nach ihrer Ankunft gestern hatte es zum Abendessen allerdings Unmengen von gebratenem Fisch und Kartoffeln gegeben, die eine kugelrunde Nonne immer wieder auf die Teller geschaufelt hatte. Sie war im wehenden Habit unermüdlich um den langen Tisch ihrer Gäste gekreist und hatte jedes gestöhnte fröhlich ignoriert, bis die riesigen fettigen Pfannen leer gekratzt waren.
Leo hatte einen Schlafsaal befürchtet, doch auch in den hospederías wusste man, was Touristen erwarteten. Wer sich mit einem Saal und Stockbetten begnügen wollte, kehrte in der Pilgerherberge ein paar Häuser weiter ein. Ihr Zimmer hatte Leo für sich allein. Über dem handtuchschmalen Bett hing ein einfaches Kruzifix, Schrank und ein Korbsessel komplettierten die Einrichtung. Das Fenster ging auf eine durch ein steinernes Geländer gesicherte Dachterrasse hinaus, die am schnellsten durch ebendieses Fenster zu erreichen war. Auf dem Dach waren Leinen gespannt, an denen sich nach notdürftiger Wasche im Handbecken noch tropfende Wanderkleidung im Abendwind bauschte.
Dazwischen luden ein paar Gartenstühle in der klaren Nacht zum Betrachten der Sterne und des vom Scheinwerferlicht vor dem schwarzen Himmel blassgelb erstrahlenden Turms der Kathedrale. So begleitete Leo leises Geplauder auf Deutsch, Dänisch, Englisch und Spanisch in den Schlaf. Es störte sie nicht, sondern gab ihr das beruhigende Gefühl, nicht allein zu sein. Allerdings hätte sie auch an diesem Abend selbst eine veritable Blaskapelle nicht am Einschlafen gehindert. Die Wanderung nach Santo Domingo de la Calzada war vergleichsweise kurz, doch von einigen kräftigen Steigungen beschwert gewesen. Wie Enno wieder versichert hatte: Gehen und frische Luft verhelfen am besten — und am schnellsten — tiefem Schlaf.
Anders als an den ersten beiden Tagen hatte die Gruppe sich nur wenig auseinandergezogen, die Steigungen waren letztlich doch zu gering, als dass sich die Unterschiede in der Kondition bemerkbar gemacht hätten. Sie begegneten nur wenigen anderen Wanderern. Einmal saßen zwei junge Frauen mit aufgeschnürten Stiefeln und sonnenverbrannten Gesichtern und Schultern am Wegrand, schwenkten fröhlich ihre Wasserflaschen und riefen mit deutlich französischem Akzent das obligatorische Buen camino. Kurz hinter Cirueña überholten sie einen einsamen, unter seinem mit Zelt, Iso-Matte und anderen Camping-Utensilien
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