Tod Auf Dem Jakobsweg
sein Schwert schwang, blies ihr kalter Wind entgegen. Sie verzichtete auf den Weg am Fluss entlang und wandte sich wieder nach Norden, zurück in den Schutz der Gassen. Am Tag hatten sich hier die Menschen gedrängt, Autos gehupt, Männer mit Sackkarren laut rufend Platz erbeten, allerdings transportierten sie keine Säcke mehr, sondern Kartons, Kisten oder Kleinmöbel. Jetzt waren nur noch wenige Menschen unterwegs, zumeist raschen Schrittes. Aus gutem Grund, am Himmel zogen schwarze Wolken auf und verdeckten die letzten Sterne.
Aus der offenen Tür einer Bodega hörte sie gedämpfte Musik, ein mit Inbrunst gesungener spanischer Schlager, es klang nach sehr unglücklicher Liebe. Warmer Lichtschein fiel auf die Gasse, als wolle er Leo den Weg zeigen. Sie blickte durch das Fenster neben der Tür, ein Schlaftrunk wäre nicht schlecht.
Die Bodega war klein und von der Art, die sich Touristen wünschen, aber selten finden. Sechs, vielleicht acht Tische, alte Holzstühle und -bänke, auf der Theke thronte ein Sherry-Fässchen, an der Rückwand standen Flaschen aufgereiht, von der Decke baumelten drei Schinken. An dem Tisch nahe der Tür saßen zwei Männer, beide gerade über das Alter hinaus, das man als bezeichnete, an einem anderen ein junges einheimisches Paar, das nur sich selbst beachtete.
Auch an der Theke lehnte ein Paar, die Frau war für Leos Augen von einem so breitschultrigen wie beleibten Mann fast verdeckt. Er lachte, dann beugte er sich vor, legte seine Hand, es war eine wirklich große Hand mit einem breiten Ehering, an den Hinterkopf seiner Partnerin und versuchte, sie zu sich heranzuziehen. Ein Glas fiel um, roter Wein rann über den Tresen, wieder lachte er und zwang die offenbar widerstrebende Frau näher. Ein schmaler Arm in einer nicht mehr ganz sauberen weißen Strickjacke kämpfte sich aus der Umklammerung, holte aus, und eine klatschende Ohrfeige traf das feiste Gesicht des Mannes.
Er fuhr zurück, griff schwankend nach ihren Handgelenken und polterte: «Du blöde Gans. Tu doch nicht so zimperlich. Du hast ja ‘ne Meise.»
Er stöhnte auf, seine Schultern ruckten vor. Eine Schuhspitze hatte ihn punktgenau am Schienbein getroffen, was ihn nicht sanfter stimmte.
Die beiden Männer am Tisch, nur zwei Schritte entfernt, beobachteten feixend und einander mit den Ellbogen stoßend die Szene. Das junge Paar rückte nur noch näher aneinander.
Mit zornrotem Gesicht hob der Dicke an der Theke die Hand — und fuhr wütend herum, als sich zwei Fäuste fest um seinen Unterarm schlossen. Er starrte in Leos Gesicht, und der Widerstand seiner Muskeln erlahmte. Sie war einen halben Kopf größer, ihr Anorak täuschte breite Schultern vor, und sie sah mindestens so wütend aus, wie er war.
«Verpiss dich», nuschelte er, um den Rest seiner Ehre zu retten, und versuchte, seinen Arm aus der Umklammerung zu zerren. «Das hier geht dich nichts an. Das ist privat.»
«Das hättest du gerne. Wer sich hier zu verpissen hat, steht außer Frage. Ich bin es nicht.»
Der Wirt kam aus dem Durchgang zur Küche gesaust, das große Schinkenmesser noch in der Hand.
«¿Qué ocurre?», rief er, erkannte, dass ausnahmsweise nicht seine Stammkunden, sondern die Touristen in Streit geraten waren, und fragte noch einmal: «What’s going on?»
«Dieser Herr», erklärte Leo ebenfalls auf Englisch, «möchte zahlen und gehen. Und zwar rápido.»
Sie ließ den Arm ihres Kontrahenten fallen starrte ihm in die Augen wie ein Rottweiler, der lange nichts mehr zwischen den Zähnen gehabt hatte, und verkniff sich ein Grinsen, als es funktionierte.
«Scheißweiber», knurrte der Dicke mit dem unterdrückten Zorn des beleidigten Verlierers, warf einen Zwanzig-Euro-Schein auf die Theke und trottete hinaus in die Gasse, immer noch nette Komplimente wie «verlogene Emanzen» und «Scheißlesben, allesamt» vor sich hin grummelnd.
«Ach, du meine Güte», sagte Leo. Sie meinte nicht den verschwundenen Amateur-Macho, sondern die blonde Frau, die mit zitternden Lippen neben ihr stand und versuchte, mit ihrem Ärmel die Weinlache aufzuwischen. Benedikts Mutter war die Letzte, die sie eine halbe Stunde vor Mitternacht und eindeutig beschwipst an der Theke einer schummerigen Bodega erwartet hatte.
«Das sollten Sie dem Wirt überlassen, Frau Siemsen», sagte sie, etwas Klügeres fiel ihr nicht ein, «sonst können Sie Ihre Jacke morgen in den Müll werfen.»
Ruth Siemsen nickte ernst, als habe Leo etwas Bedeutendes
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