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Tod Auf Dem Jakobsweg

Tod Auf Dem Jakobsweg

Titel: Tod Auf Dem Jakobsweg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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aber sie machte die Nacht um sie herum trotz der grell angestrahlten Kathedrale schwarz. Sie fühlte sich wie ein in der Fremde ausgesetztes Kind.
    Früher hatte sie nie darüber nachgedacht, sie war einfach zu beschäftigt gewesen. Intensive Freundschaften erforderten Zeit und Pflege. Ihre Arbeit im Hotel bedeutete ständige Begegnungen mit Menschen, viele waren schwierig, auf alle hatte sie sich einzustellen. In ihren freien Stunden und Tagen wollte sie Ruhe haben, keine Konflikte und auf keine Wünsche oder Ansprüche reagieren müssen. Ihr Leben bestand aus ihrer Arbeit, die sie mochte, und ihrem Sohn, den sie liebte. Sogar nachdem Benedikt im dritten Semester ausgezogen war, um mit zwei Freunden eine billige Wohnung in einem billigen Stadtbezirk zu teilen, als er also endgültig begonnen hatte, sein eigenes Leben zu führen, war es so geblieben. Äußerlich hatte sie ihn losgelassen, auch in der Rolle als Mutter folgte sie ihrem Prinzip der Disziplin. Wenn ein Kind erwachsen wurde, musste man es seine eigenen Wege gehen lassen, sich nicht mit ungebetener Fürsorglichkeit aufdrängen, nicht zu viel fragen, noch weniger urteilen. Besonders bei der Wahl seiner Freundinnen.
    Es war ihr schwergefallen, entsetzlich schwer, aber sie hatte es geschafft. So, wie sie es geschafft hatte, ihn nach dem Tod seines Vaters alleine gut zu erziehen und ihm die Ausbildung zu ermöglichen, die er sich wünschte. Abgesehen von der komplizierten Phase der Pubertät, in der sie zu wenig Zeit für ihn gehabt hatte, war er ihr immer ein liebevoller Sohn gewesen, auch ein fürsorglicher, besonders in den letzten Jahren, seit er mehr verdiente als sie. Manchmal hatte sie das Gefühl gehabt, er vertausche die Rollen. Das hatte ihr gefallen, sie war es schon lange nicht mehr gewöhnt, umsorgt zu werden.
    Beide waren zu beschäftigt, um sich oft zu sehen. Wenn es wieder einmal misslang, einen gemeinsamen freien Abend zu finden, musste ein Telefonat reichen. Ihre Liebe und Vertrautheit war trotzdem stark und verlässlich geblieben, da war stets dieses Gefühl, er sei in ihrer Nähe. Sie war es zufrieden gewesen und hatte nichts vermisst. Im Lauf der Jahre sogar immer weniger eine neue Liebe, einen neuen Mann. Auch dafür hatte sie sich keine Zeit erlaubt. Vielleicht war das falsch gewesen.
    Ruth Siemsen schloss ihr Adressbuch, schob es in die Tasche und blickte den Passanten nach. Um diese Stunde waren es nur noch wenige, die meisten gingen raschen Schrittes, nach dem heißen Tag war es wieder kühl geworden. Noch luden keine lauen südlichen Nächte zum Schlendern ein.
    Paare, dachte sie, wohin man sieht, Paare.
    Niemand beachtete sie, nicht einmal der räudige alte Hund, der an den Ecken schnüffelnd vorbeihumpelte. Sie rieb fröstelnd die kalten Hände gegeneinander und schob sie in die Taschen ihrer Strickjacke. Es war eine gewöhnliche Strickjacke mit ausgebeulten Taschen, die bei dem eiligen, von Panik bestimmten Packen in den Koffer geraten war. Bis vor drei Tagen wäre sie in einer solchen Jacke nicht einmal zum Supermarkt gegangen. Ruth Siemsen, dieses Musterbeispiel an Korrektheit.
    Als sie heute das Hospital verlassen hatte — nicht ganz freiwillig, Schwester Luzia hatte sie mit sanftem, aber energischem Druck hinauskomplimentiert und schlafen geschickt—, hatte sie sich wie betäubt gefühlt. Benedikt war , so hatte Dr. Helada gesagt, er sei zuversichtlich, Señor Siemsen werde bald wieder bei Bewusstsein sein. Da war sie beinahe zusammengebrochen, Sterne hatten vor ihren Augen geflirrt, ihr Kopf war schlagartig leer gewesen, der Boden hatte erst aufgehört zu schwanken, als sie Luzias große Hand fest und warm auf ihrer Schulter gefühlt hatte.
    Sie hatte nicht gehen wollen. Wenn Benedikt aufwachte, durfte er nicht allein sein, dann wollte sie neben ihm sitzen und ihm die Angst nehmen, die ihn in dieser fremden Umgebung überfallen musste.
    Das werde noch dauern, hatte Dr. Helada gesagt, doch der Blick, den er der Schwester zugeworfen hatte, Ruth Siemsen hatte es genau gesehen, bewies, dass er sie nur beruhigen oder loswerden wollte.
    Sie passe auf ihren Sohn auf, hatte Luzia versichert, sie bleibe die ganze Nacht. Ihr Rosenkranz werde sie wach halten.
    Ruth Siemsen löste den Blick von den Passanten, die sie ohnedies kaum wahrgenommen hatte, und sah zu den Türmen der Kathedrale hinauf. Während der letzten beiden Tage und Nächte hatte sie gebetet, inbrünstig, flehentlich. Sie hoffte, Gott

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