Tod Auf Dem Jakobsweg
verzeihe ihr, dass es das erste Mal seit vielen Jahren gewesen war. Die Uhrglocke schlug, vielleicht bedeutete das ein Ja.
Mit Benedikt ging es bergauf. Sie müsste glücklich sein, unendlich erleichtert, voller Zuversicht. Das war sie. Ganz sicher. Warum fühlte sie es nicht? Warum fühlte sie sich nur erschöpft, verloren in einem Sumpf voller schwarzen Nebels? Vielleicht lag es an der Formulierung. hatte sie sofort an den Weg in den Pyrenäen erinnert, auf dem der Unfall geschehen war. Der Unfall. Sie hatte darüber nachgedacht, in den vielen Stunden im hospital war genug Zeit gewesen und keine Möglichkeit, diesen Gedanken zu entkommen, und endlich hatte sie beschlossen, es bei der Version vom Unfall zu belassen. Vorerst. Was sonst sollte sie tun?
Jetzt sollte sie sich zusammenreißen, endlich in ihr Hotelzimmer gehen und sich in die Badewanne legen, auch ihr Haar brauchte dringend eine Wäsche.
Sie blieb sitzen.
Die Stille des engen Einzelzimmers, der Blick aus dem Fenster in den Hinterhof und gegen die nächste Wand würden ihr wieder das Gefühl gehen, im Käfig zu sitzen. Laufen, dachte sie, einmal quer durch die Stadt und dann am Fluss entlang. Wenn man stecken bleibt, muss man sich bewegen, das war ihre strenge Devise.
In dieser Nacht nicht. Sie blieb sitzen, fröstelnd und starr.
Zwei Stimmen lachten, ein bisschen schrill und betrunken. Ein Mann und eine Frau kamen aus der Bodega an der Ecke zur Calle Paloma und gingen, die Arme um die Schultern des anderen, mit nicht ganz sicherem Schritt über die Plaza del Rey, stolperten kichernd die Treppe zur Plaza Santa María hinauf und verschwanden in einer der engen Seitenstraßen. Plötzlich hörte sie auch andere Stimmen, sie hörte Autos, ein knatterndes Moped, Musik aus einer Bar, das Plaudern der Vorbeigehenden. Ihr Kokon aus Einsamkeit hatte sich geöffnet, das Leben der Stadt war wieder da.
Ruth Siemsen erhob sich mit einem entschlossenen Ruck. Sie war nie zuvor abends alleine in eine Bar oder Bodega gegangen, kaum einmal in ein Restaurant. In dieser Nacht war alles besser als das einsame Zimmer. Wenn es niemanden gab, der mit ihr ein Glas auf Benedikts Rückkehr ins Leben trank, tat sie es eben allein.
Schließlich waren die Weinkaraffen geleert, alle verabschiedeten sich und gingen auf ihre Zimmer. Fritz und Rita waren als Erste gegangen, beide schweigsam wie während des ganzen Essens. Die Anerkennung, die Helene auf ihn als Retter mit erhobenem Glas ausgesprochen hatte, hatte er abgewehrt. Es sei nichts gewesen, Enno wäre auch ohne ihn nichts Ernstes passiert. Dann hatte er Jakob nach dem Wetterbericht für morgen gefragt, und das Thema war erledigt. Auch Hedda war still gewesen, doch bei ihr war das nichts Besonderes.
Leo hatte noch keine Lust, auf ihr Zimmer zu gehen. Sie war hellwach und beschloss zu erkunden, was Burgos bei Nacht bot. Jakob trug ihr halbherzig seine Begleitung an, sie sah sein erschöpftes Gesicht und lehnte dankend ab.
«Mir wäre lieber, du bliebest hier», sagte er. «Burgos ist nicht Neapel oder Mexico City, versprich mir trotzdem, dunkle Gassen zu meiden. Es reicht mir nämlich. Wenn noch etwas passiert, breche ich die Tour ab.»
«Keine Sorge, mir tut keiner was. Mit meinen eins zweiundachtzig und in diesem Outfit», sie sah an ihrem zerknitterten Anorak und den Jeans hinunter, «sehe ich weder verführerisch noch nach dickem Portemonnaie aus. Ich möchte nur eine Viertelstunde an die frische Luft.»
«Dann verlauf dich nicht, die Nacht ist kalt. Ich bin froh, dass deine Internetrecherche nichts ergeben hat, wobei ich eigentlich nicht weiß, wonach du gesucht hast.»
«Ich auch nicht, Jakob. Das weiß man häufig erst, wenn man es gefunden hat.»
«Kann es sein, Leo, dass du einfach nur verflixt neugierig bist?»
Er hob mit freundlichem Schmunzeln die Hand zum Abschied und wandte sich zur Treppe. Nach den ersten Stufen drehte er sich noch einmal um. «Hoffentlich wacht Benedikt wirklich bald auf. Dann erfahren wir endlich, was geschehen ist.»
Leo wies ihn nicht darauf hin, dass das menschliche Gehirn in solchen Fällen oft so gnädig war, die Erinnerung an die Momente des größten Schreckens zu löschen.
Sie ließ sich durch die Altstadtgassen treiben, überquerte die Plaza Mayor und ging weiter bis zum Denkmal des schillernden Nationalhelden El Cid mit dem wilden, bis zur Taille reichenden Bart. An der Brücke über den Río Arlanzón, der Puente de San Pablo, in deren Richtung er drohend
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