Tod auf der Donau
zwei,drei Diensten einen einzigen Wunsch ablesen: Flucht. Sie zählte nicht nur die Tage wie alle anderen, vielmehr auch Stunden, ja sogar Minuten. Sie blickte ihre Kollegen an, als ob diese bereits der Vergangenheit angehörten. Die Frau floh dann in der Regel schon in der ersten Woche, obwohl sie so auch ihren Verdienst verlor. Sie verschwand bei der ersten günstigen Gelegenheit, beim Landgang irgendwo in Wien oder Budapest und kam nie wieder zurück. Oft blieben ein paar Kleidungsstücke und Hygieneartikel in ihrer Kajüte zurück, auf welche sich die anderen stürzten.
Mona entdeckte eine Gruppe Matrosen, die in der Crew-Kantine mit einer an den Fernseher angeschlossenen Konsole spielte. Die Glühbirne spendete ein grelles Licht wie auf einem Operationstisch. In den Regalen standen unzählige leere Schnapsflaschen. Der Raum wurde mit einer knarrenden Klimaanlage gekühlt. Monas Ankunft erregte Aufsehen. Die Männer verschlangen sie mit den Augen. Der Meister schrie etwas, und alle gingen die Stahlzylinder abbauen. Sie lebten in einem höllischen Mix aus Rost, Ölen, Metallspänen, Muttern und Schrauben. Nicht selten fehlten einem ein oder zwei Finger oder Zehen. Es wurde gemunkelt, dass viele Unfälle absichtlich verursacht worden waren – wegen der amerikanischen Versicherung.
Endlich sperrte Martin die Tür seiner Kajüte hinter sich zu. Der Raum war nicht aufgeräumt, doch hielt er es nicht für notwendig, sich zu entschuldigen. Mona schaute sich um.
»Entschuldige bitte, dass ich dich so überfallen habe«, sagte sie und setzte ihr strahlendstes Lächeln auf.
»Was machst du hier?«
»Ich bin gekommen, weil ich dich um Hilfe bitten möchte.«
»Mich? Wie hast du herausgefunden, wo ich bin?«
»Martin, Bratislava ist eine Kleinstadt, jeder, der dich kennt, weiß, wo du arbeitest. Deine Eltern haben mir gesagt, dass es ein paar Wochen nach deinem Verschwinden verschiedenste Gerüchte gab. In der Stadt wurde darüber gesprochen, die Leute finden alles heraus.«
Den Job auf diesem Schiff hielt er geheim. Niemand sollte davon erfahren. Das war auch bequem: Er schrieb niemandem, er bekam weder E-Mails noch Briefe, lebte inkognito. Die Menschen aus seinem vormaligen Leben blieben auf der anderen Seite, hinter einer fiktiven Glasscheibe, durch welche, wie er dachte, er sie sporadisch sehen konnte, sie ihn jedoch nie.
»Eigentlich ist es egal. Es interessiert ohnehin niemanden, wo ich bin. Sprechen wir nicht darüber. Was willst du?«
»Ich brauche deine Hilfe. Hör mir zu. Du warst für mich immer etwas Besonderes. Ich will nur fünf Minuten.«
Er bildete sich nicht mehr ein, dass sie ihn anziehend fände. Ihre Unterwürfigkeit ärgerte ihn. Hinter ihren Komplimenten ahnte er klare Absichten. Ihre Bitte brachte sie höchst melodramatisch vor:
»Bitte, kannst du mich ein paar Tage hierbehalten?«
»Entschuldige, doch das ist völlig absurd.«
»Ich habe etwas Schlimmes gemacht und muss mich verstecken. Nur für eine kurze Zeit. Du bist der Einzige, an den ich mich wenden kann«, sprudelte es aus ihr hervor. »Urteile nicht über mich«, setzte sie fort, »ich muss mit jemandem sprechen, mit jemandem, der mich nicht kennt.«
»Aber ich kenne dich, Mona.«
Wieder fiel ihm ihr Koffer auf. Sie legte ihn aufs Regal und ließ ihn nicht aus den Augen. Er hatte keine Ahnung, was sich darin befand, musste es aber schnell herausfinden. Auf den Schiffen wurden Polizeirazzien durchgeführt, deswegen wollte er kein Risiko eingehen.
»Du kennst mich nicht. Es ist lange her … Warte, ich erkläre dir alles.«
»Du hast keine Ahnung, wo du bist. Ich arbeite hier, bin für hundertzwanzig Leute zuständig und weiß nicht, wo mir der Kopf steht. Wo würdest du schlafen?«
Sie zuckte nur mit den Schultern, spielte an ihrem perfekten kleinen Finger herum und schaute flüchtig zum Bett.
»Es ist kaum Platz für einen hier«, sagte Martin.
Sie hätte sich ihr Lächeln, mit dem sie sagte: »uns wird schon was einfallen«, patentieren lassen sollen.
»Dieses Schiff fährt in drei Stunden nach Passau ab.«
»Mich hält hier nichts. Ich fahre gern mit dir«, sagte sie, und in einem ganz anderen Ton fügte sie hinzu: »Was übersetzt du gerade?«
Auf dem Tisch lag ein Buch, das er unlängst auf eigene Faust zu übersetzen begonnen hatte. Er würde sogar aufs Honorar verzichten, nur damit es irgendwann erscheinen könnte.
»Einen Italiener, Calvino.«
»Kenne ich nicht. Ich habe aber gesehen, dass einige deiner
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