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Tod auf der Donau

Titel: Tod auf der Donau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michal Hvorecky
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kurz, aber sie rührte sich nicht. Sie atmete regelmäßig. Er hatte einmal geschworen, sie nie wieder anzusehen, konnte jetzt aber seine Augen nicht von ihr lassen.
    Er sah den Koffer an. Der sah solide aus, sorgfältig angefertigt, aus Leder, dunkelrot, schon länger in Verwendung, doch gut erhalten. Nach einer Weile konnte er nicht widerstehen und hob ihn auf. Er war ziemlich leicht. Er fasste ihn an, roch an ihm, er machte das alles nur, um zu irgendeinem Entschluss zu gelangen. Doch konnte er nicht bestimmen, was und ob sich tatsächlich etwas drinnen befand. Das Gewicht konnte auch von den vielen Fächern, dem doppelten Boden oder dem Material herrühren. Er probierte das Patentschloss – es war zu. Er konnte nicht erklären, woher er diese Sicherheit nahm, doch plötzlich war er davon überzeugt, dass ihr einzigesGepäckstück leer war. Lautlos stellte er den Koffer auf den Boden. Er musste zu den Passagieren. Es blieb ihm also gar nichts anderes übrig, als Mona in der Kajüte zurückzulassen.

6. VERRÄTERISCHER ABSCHNITT
    Das Schiff zitterte ein wenig, als es vom Ufer ablegte. Die Schiffsmotoren dröhnten, die Matrosen wickelten die Seile auf, lockerten die Knoten. Die
America
glich einem Menschen, der, nachdem er übernachtet hatte, nunmehr seinem Unterstand den Rücken kehrte.
    Jedes Mal, wenn er Regensburg verließ, dachte Martin daran, dass von hier aus im Mittelalter die Juden auf ruderlosen Schiffen in den sicheren Tod geschickt wurden, bis man sie 1519 gänzlich vertrieb. Die Einwohner pflegten auf der Steinbrücke abzuwarten, bis sie das Schiff aus den Augen verloren, und brachen danach im Ghetto ein und plünderten und stahlen, was noch übrig war. Ähnlich hatten sich die Städte im Mittelalter auch ihrer Geisteskranken entledigt – sie luden sie auf die Fähren und schickten sie stromabwärts. Auf der Donau trieben oft Narrenschiffe, und wenn es der halbnackten, kreischenden Besatzung gelang, sich der nächsten Siedlung zu nähern, wurde sie meistens vertrieben und noch weiter den Fluss hinuntergeschickt.
    Martin schaute sich um. Er stand neben Atanasiu, mit einem Mikrophon in der Hand, und kommentierte die Abreise.
    Der Kapitän ließ ein langes, durchdringendes Hupen ertönen, welches kilometerweit bekanntgab, dass das Schiff nun ablegte. Vom Heck der
America
zog sich eine schäumende Linie, welche nach einiger Zeit spurlos verschwand. Nach etwa fünf Minuten hatte der Kapitän das Schiff mit stabiler Geschwindigkeit in die Flussmitte manövriert.
    »Von hier aus bis nach Wien ist der Fluss weiblich, im Deutschen ist es eine Dame, also die Donau. In meiner Sprache, im Slowakischen, heißt derselbe Fluss Dunaj und ist männlich. Mehr davon werdeich Ihnen dann in meiner Geburtsstadt Bratislava erzählen, wo ich studiert habe. Und ein paar Kilometer weiter, in Ungarn, ist es Duna. Im Ungarischen haben Flüsse kein Geschlecht, weil die Grammatik keine Geschlechter kennt. Werden Sie sich die Namen merken?«
    »Sicher!«, schrien die Amerikaner, er wusste allerdings, dass sie es jetzt schon vergessen hatten, eigentlich nahm er ihnen das gar nicht übel.
    Der schnelle schmale, kurvenreiche Strom war auf beiden Seiten von niedrigen Hängen eingefasst, die an Bahnböschungen erinnerten. Nach und nach versank die Landschaft in der Stille.
    »Unser Schiff misst einhundertdreißig Meter Länge, und für Ihren Komfort sorgen hier vierzig Menschen, unter der Leitung von Kapitän Atanasiu. Diejenigen von Ihnen, die mich gerade am Oberdeck hören, müssten uns eigentlich auch sehen. Können Sie uns zuwinken?«, fragte Martin. Einige folgten seiner Aufforderung. »Ich grüße auch unsere Gäste in den Kajüten, zum Beispiel Herrn Clark Collis, der uns über das Schiffsradio hören kann. Ich hoffe, dass Sie die Schifffahrt ebenfalls genießen.«
    Das Oberdeck wurde von der Besatzung auch »Sundeck« genannt, und viele Amerikaner lagen dort auf Sonnenliegen ausgebreitet oder spazierten mit Gehstöcken entlang des Geländers. Nur drei Meter von der Brücke des Kapitäns entfernt, besetzte einer der Kellner eine Bar. Es machte sich immer bezahlt, den Passagieren Alkohol auszuschenken. Fast alle hier schluckten dazu noch Medikamente in rauhen Mengen. Martin führte eine kleine Armee von Drogensüchtigen an. Die Reisenden waren verpflichtet, während der ersten zwei Tage einen persönlichen Fragebogen auszufüllen, und die für die Medikamentenangabe ausgewiesene Spalte war nie breit genug – manche brauchten für

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