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Tod auf der Donau

Titel: Tod auf der Donau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michal Hvorecky
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Dickens erfundene Figuren, im Gegensatz zu Sherlock Holmes, Robin Hood oder Eleanor Rigby.
    Der Passagier William Webster, ein circa siebzigjähriger Pensionist aus Boston, näherte sich Martin. Er erweckte den Eindruck eines groß aufgeschossenen Mannes, dessen Größe von geheimnisvollen Kräften innerlich aufgezehrt wurde. Bisher war er ihm nur flüchtig aufgefallen. Er hatte nicht die geringste Ahnung, was der Mann von ihm wollte, allerdings reichte nach all den Jahren ein einziger Blick, um auszumachen, dass es nicht gut um ihn stand. Dennoch wahrte er die Fassung und stellte sich seinem Schicksal.
    »Guten Tag, William!«, grüßte Martin mit vorgetäuschter Begeisterung. »Wie geht es Ihnen? Kann ich irgendwie helfen?«
    Webster schnappte nach Luft, näherte sich Martin mit gestrecktem Hals und hoch aufgerichtetem Kopf, dann schrie er ihm ins Gesicht:
    »Mir geht’s scheiße, du Null, du mit deiner Scheißhöflichkeit und dieser widerlichen Firma! Diese Reise ist die größte Enttäuschung meines Lebens! Ein Skandal! Eine Frechheit!«
    »Entschuldigen Sie, Bill, aber …«
    »Nenn mich nicht Bill!«
    »Entschuldigen Sie, William, was ist passiert?«, wollte Martin wissen. Im ersten Moment war er perplex. Doch sofort flüsterte ihm eineStimme in seinem Kopf zu: »Ganz genau, mein Herr. Ich stimme mit Ihnen vollkommen überein. Ganz meine Meinung!«
    Es kostete ihn sehr viel Anstrengung, diese teuflische Stimme zum Schweigen zu bringen.
    »Du wagst es noch zu fragen?«, kreischte Webster. »Das gibt es doch gar nicht! Was erlaubst du dir? Wer bist du denn, dass du mich überhaupt ansprichst? Ich schreibe das alles deinem Chef, und du hast ausgespielt! Du wirst doch wohl nicht dafür bezahlt, dich hier auszuruhen!?«
    Nach all den Erfahrungen mit unzufriedenen Kunden dachte Martin eigentlich zu wissen, wie es ablief, wenn ihm jemand die Leviten las. Doch das, was er gerade erlebte, war ungewöhnlich.
    Websters Gesicht blieb voller Zorn. Martin wurde mit unvorstellbaren Beschimpfungen überhäuft. Er sah den Passagier mit geweiteten Augen an und wartete, dass dessen Ausbruch an ein Ende kam, doch jedes Wort schien die Kräfte des Greises zu multiplizieren. Es stellte sich heraus, dass ihm der Bus zu schmutzig gewesen war, die Sitze zu klein, die Klimaanlage falsch eingestellt, die Gehstrecke zu lang, die Reiseführerin unverständlich und das ganze Programm des ersten Tages ganz und gar schauderhaft. Noch mehr habe ihn dieses schreckliche Schiff enttäuscht, denn er hätte schon andere Reisen unternommen, einen anderen Luxus erlebt und für diesen Preis wünschte er erstklassige Qualität. Das war es. Wirklich unerhört!
    Martin, der dem Passagier ausgeliefert war, hätte am liebsten geantwortet: Ich gratuliere, dass Sie das so schnell durchschaut haben, an einem einzigen Tag, Sie besitzen eine unglaubliche Beobachtungsgabe! Ich bin vollkommen Ihrer Meinung! Das hier ist legaler Diebstahl. Und obendrein in großem Stil. Jetzt wissen wir es also beide. Lassen Sie uns einen drauf trinken!
    Stattdessen setzte er sein ängstliches Gesicht auf. Er wusste, dass dieses amerikanische Schreckgespenst erwartete, dass er sein Gesicht verlöre, um seine Würde und Anerkennung zu zerstören. DieFreude an der öffentlichen Verunglimpfung würde er ihm allerdings nicht gönnen. Regelmäßig gab es Kunden, die Besatzung nannte sie »Complainers«, die den geringsten Vorwand dazu nutzten, um loszuschlagen und so ihre sadistischen Gelüste zu stillen.
    »Ich danke Ihnen«, gab sich Martin kleinlaut, er sprach mit abgehackter und unterwürfiger Stimme. In regelmäßigen Intervallen zuckte er mit den Achseln und nickte eifrig. Er machte ein braves und verschämtes Gesicht – und biss sich auf die Zunge, um ernst zu bleiben. Es fiel ihm so schwer, dass er fast nichts mehr sagen konnte. Um sein Innenleben zu verbergen, neigte er den Kopf, so tief es ging, wodurch er den Anschein einer noch vollkommeneren Niederlage erweckte, das würde Webster sicher gefallen. Seine Verblüffung wich einer geradezu wissenschaftlichen Neugier. Er wollte dieses Ungeheuer kennen- und verstehen lernen.
    »Vergessen Sie bitte nicht, Ihre Meinung auch in Ihrer Bewertung anzuführen«, fügte Martin noch hinzu.
    Seine Reaktion brachte den Alten vollkommen aus der Fassung. Websters Gesicht blieb reglos. Er wusste augenscheinlich nicht mehr, ob es ihm unter diesen Umständen noch gelingen würde, seine Herrschaft auszukosten und Martin restlos zu demütigen.

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