Tod auf der Donau
eigene Besichtigungsrouten und Zeitpläne durchzusetzen, so lange, bis er sie schroff zurechtwies. Er würde sich darum bemühen, die Dinge auf dem Schiff wieder in einen Normalzustand zu bringen, er musste damit aufhören, seine Pflichten zu vernachlässigen! Er hatte absolutkeine Lust, mit den Touristen mitzugehen, doch es war unumgänglich. Nach dem Frühstück brachen drei Luxusbusse in den verlässlich zum Höhepunkt der Reisesaison auftretenden Stau auf. Das Interieur der Busse war mit imperialen Mustern tapeziert worden.
Ungefähr dreißig Kirchen, halbnackte Statuen an der Hofburg, verwinkelte Gässchen, die Habsburger, Torten auf Papiertellern, Spitze, geschnitztes Holz, Stuck, der an eine Tortenglasur erinnerte, Maria-Theresia, Beethoven, Mozart … Die Sonne strahlte auf die Sehenswürdigkeiten und Martin herab. Halb ohnmächtig vor Hitze überlegte er, welche Eindrücke die Touristen wohl von der Stadt mitnehmen würden. Jahrhunderte der Verkaufskunst verwandelten die Schaufenster in unwiderstehliche Attraktionen. Die Amerikaner stellten ein dankbares Klientel dar und kauften massenhaft Souvenirs.
»Liebe Gäste, wir machen jetzt eine Pause im exzellenten »Café Central«. In Wien zählen nicht nur Mehlspeisen zum Stadtbild, sondern auch Zigaretten. Haben Sie keine Angst, wir werden im Nichtraucherbereich sitzen. Der hiesige Kaffee ist kleiner als der amerikanische, seien Sie also nicht überrascht, wenn er etwas stärker ist. Ruhen Sie sich aus, denn wir werden heute noch viel marschieren.«
Den letzten Satz sagte er nur deshalb, damit die Amerikaner protestierten und nach verkürzten Besichtigungen verlangten, was auch sogleich passierte. Obwohl er damit mehr als einverstanden war, täuschte er vor, dies zu bedauern. Es war immer leichter, wenn ein solcher Vorschlag von den Passagieren kam. Andernfalls hätten sie der Firma diese »Streichung« gemeldet.
Kaum hatte er sich an den Kaffeetisch gesetzt, dachte er an all die Schriftsteller, die hier bereits verkehrt hatten: Peter Altenburg, Hugo von Hofmannsthal, Egon Friedell und andere.
Martin zählte zu einer Generation, die in Bratislava mit österreichischem Rundfunk aufgewachsen war. Die Hauptstadt des Nachbarlandes besuchte er regelmäßig, seit gut zwanzig Jahren. Nach 1989 hatte er für seine Tagesausflüge nach Wien immer ein Wiener Schnitzel in Alufolie aus Bratislava mitgebracht, das er gierig auf einerParkbank vor dem Kunsthistorischen Museum verschlang, dazu gab es etwas Wiener Kaffee aus der Thermoskanne. Er wusste, wo es im Zentrum Toiletten gab, die nichts kosteten. Die Mariahilfer Straße war damals für Martin der Inbegriff des Kapitalismus.
Zu jener Zeit, in der viele eine starke Sehnsucht nach Leben verspürten, wurde Martin immer verschlossener und versuchte sich an ein Leben ohne Mona zu gewöhnen. Die Erinnerung an sie fraß ihn innerlich auf. Jeden Tag ging er hinaus, aber das Donauufer wirkte auf ihn hoffnungslos leer. Auch bei den Wien-Aufenthalten steuerte er immer zuerst den Fluss an.
Sein Leben veränderte sich, als er die Schulbibliothek für sich entdeckte. Er kannte sich weder mit Buchtiteln noch mit Autorennamen aus; demnach las er wahllos alles, was ihm unter die Finger kam. Er liebte vor allem Geschichten über Seefahrer, Matrosenabenteuer und begeisterte sich für die Schicksale schiffbrüchiger Kapitäne. Am besten gefiel es ihm, wenn ein Schiff in Gefangenschaft von Piraten geriet oder wenn es langsam versank. Es ärgerte ihn immer schon, dass es so viele Geschichte über die Meere gab, doch nur wenige über Flüsse.
Das Geschäft mit Ausflugsschiffen wuchs von Jahr zu Jahr. Die Donau wurde nicht mehr durch einen Eisernen Vorhang geteilt, vielmehr von Journalisten, Fotografen und Filmleuten für sich entdeckt. Martin beobachtete die luxuriösen Dampfer: Am Heck flatterten die Fahnen Maltas, Österreichs und manchmal auch der Slowakei.
Martin faszinierte all der Komfort, der die Wasseroberfläche mit seinen Lichtern überflutete. Die Außerirdischen aus dem Westen waren im Osten gelandet. Die rätselhaften Wesen tranken Martini, Cinzano oder Whisky, er konnte sich den Geschmack nicht einmal vorstellen. Er versuchte, sich die Frau auszumalen, die diese oder jene Kajüte bewohnte, und rekonstruierte im Kopf ihre Reiseroute. In seinen Gedanken begleitete er die Menschen auf ihren Reisen quer durch Europa, ohne zu wissen, ob sich neben diese Frauen nicht gerade ihre Ehemänner ins Bett legten.
Es war höchste
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