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Tod auf der Donau

Titel: Tod auf der Donau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michal Hvorecky
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Passagiere, die noch nicht schlafen gegangen waren, beobachteten gebannt, mit welcher Selbstverständlichkeit sich die Matrosen bei diesem Manöver bewegten. Der erfahrene Bootsmann konnte sich selbst bei unvorhersehbaren Rucken und Stößen aufrecht halten.
    Jeder Bootsmann beherrschte seine Manöver. Auf den ersten Blick hätte Martin nicht geglaubt, dass die Seile so unglaublich fest waren. Doch die elektronischen Prüfungen hatten ergeben, dass ein aus Kunstfasern geflochtenes Seil einen Zug von bis zu vier Tonnen halten konnte. Sie wurden in spiralförmigen Schichten in offenen Trommeln abgelegt. Jede Schlinge könnte jemanden ins Wasser reißen. Das Verstauen der Seile wurde mit allergrößter Sorgfalt durchgeführt, es wurde penibel darauf geschaut, dass sich das Seil nicht verhedderte oder hängen blieb; nicht selten konnte Martin beobachten, wie es beim schnellen Abrollen zu rauchen begann.
    Das Schiff glitt aus dem Hafen heraus und fuhr Richtung Osten. Atanasiu schaute konzentriert von seiner Brücke. Mit der Besatzung wechselte er nicht allzu viele Worte und die Besatzung nicht mit ihm. Der lange Tag versank in der Nacht. Die Sterne hüllten die
America
in eine glitzernde Rüstung, und die Reling glänzte im Mondlicht. Auf dem Dach der Kapitänsbrücke krächzte eine Möwe. Vom Oberdeck aus hörte Martin die Maschinen, das atmende Herz des Leviathans, das den Schiffsrumpf immer weiter schob. Er rief Mona herbei.
    »Das musst du gesehen haben. Vor der Revolution war das hier eine tote Ecke, ein Niemandsland, die billigsten Grundstücke in ganz Österreich gab es hier. Jetzt gilt: Je näher zur Grenze, desto attraktiver der Standort. Im Burgenland bauen reiche Slowaken ihre Häuser. Claudio Magris hat sich damals entschieden, ein Buch über die Donau zu schreiben, als er mit dem Schiff hier entlangfuhr.«
    Er zeigte Mona das Heidentor bei Carnuntum, wo das römische Heer einst sein Winterlager aufgeschlagen hatte und wo während der Markomanenkriege Marcus Aurelius sein Hauptquartier errichtet und ein Buch verfasst hatte. Sie ließen am rechten Ufer Fischamend, Bad Deutsch Altenburg und Hainburg zurück. Auf dem linken Ufer zogen sich bei Orth an der Donau die Auwälder hin. Er stand ganz dicht an Mona, sie berührten sich fast, als sich plötzlich eine starre Hand in Martins Schulter grub, er hätte vor Schmerz und Schreck beinahe aufgeschrien.
    »Ich kenne das alles hier«, sagte eine alte, müde Männerstimme, und Mona zuckte ebenfalls zusammen.
    Es dauerte eine Weile, bis Martin in der Dunkelheit das Gesicht ausmachen konnte. Neben ihm stand Erwin Goldstucker, ein unauffälliger, kleiner alter Mann aus Brooklyn. Er war allein unterwegs und hatte bisher nichts Auffälliges von sich gegeben, weder Kritisches, noch Lobendes, er pflegte still mit seinem weißen Stock umherzugehen.
    »Guten Abend, mein Herr. Wirklich? Wann war das?«, fragte Martin.
    »Ich habe hier so einiges erlebt, nach dem Anschluss 1938, in der Nacht von Karfreitag auf Karsamstag.«
    »Das ist schon sehr lange her …«, bemerkte Mona.
    »Ich war damals erst sieben.«
    »Da waren noch nicht einmal meine Eltern auf der Welt«, sagte Mona.
    »Es war die schrecklichste Zeit meines Lebens. Vor lauter Angst, die Nazis könnten sie angreifen, haben die Hainburger eiserne Jalousienvor ihren Fenstern befestigt. Die Nazis haben in der Nacht alle Juden aus Hainburg und den umliegenden Ortschaften verjagt – Alte, Mütter mit Babys, Väter. Sie durften nichts mitnehmen, sind in ihren Pyjamas und Nachthemden hinausgelaufen, im März – es war bitterkalt. Sie haben sie zur Donau getrieben und auf diese kleine Insel vor Devín verschifft.«
    Er hielt inne und begann zu zittern. Das Mondlicht schien jetzt heller und überdeckte alles mit einem zarten Schimmer.
    »Damals herrschte Hochwasser, das Wasser stieg über den Damm, und es war so laut, dass man die Motorboote gar nicht gehört hat. Die kleine Insel hatte es überschwemmt. Die Hitler-Schergen hatten alle von den Booten aus ins eisige Wasser geworfen, am Zusammenfluss der Donau mit der March. Das Weinen und Rufen konnte dort niemand hören. Wir standen da, etwa siebzig Leute, nur in Unterwäsche gekleidet, bis zum Hals im Wasser. Mich hat die Mutter auf den Schultern gehalten, also habe ich nicht ganz so schlimm gefroren, doch die anderen waren völlig verzweifelt.«
    Erwin blickte ins Leere.
    »Und es hat Sie niemand gehört?«, fragte Martin.
    »Nein. Erst gegen Morgengrauen hat man unsere

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