Tod auf der Donau
Geschäftsvermittlers. Er bemitleidete die Touristen in den anderen beiden Bussen, für die es absolut unmöglich sein musste, irgendetwas zu verstehen; bestenfalls konnten sie die Schönheit des Bulgarischen mit einem zweifelhaften englischen Akzent genießen.
Sie fuhren nach Süden, über Ivanovo, Dve Mogili und Borovo. Die Hinweisschilder in kyrillischer Schrift verwiesen auf entlegene Gegenden, deren Verlassenheit einem Angst einflößte, die jedoch auch eine wilde Schönheit versprachen. In der klaren Luft traten die Baumäste, Dachfirste und Hausumrisse besonders scharf hervor. Martin erzählte etwas über die fruchtbaren Böden, die nicht bestellt wurden, die niedrigen Gehälter und die Korruption, er zeichnete (wie auf Geheiß) das Bild einer Gegend, in der zu leben eine ausgemachte Strafe sein musste. Dies erfüllte die Touristen mit Mitgefühl und Schadenfreude und steigerte, wie er aus Erfahrung wusste, sein Rating. Unter dem allgegenwärtigen Schmutz erkannte Martin auch etwas Reines, als würden die Bewohner ihren Unrat zwar unter die Schränke kehren, doch zugleich ein reines Herz besitzen. Die Busse schleppten sich im Schneckentempo auf Straßen dahin, die diesen Namen nicht verdienten. Vor den Häusern saßen alte Frauen und schluckten Straßenstaub,schärften ihre Zungen oder versanken in Erinnerungen an ihr früheres Leben. Die Frauen auf den Feldern stützten sich auf ihre Rechen und folgten ihnen mit Blicken.
Nach anderthalb Stunden blitzte zwischen den Hügeln Veliko Tarnovo auf. Die Passagiere zeigten sich überrascht. Auf den Ufern über dem Fluss Jantra drängten sich in engen Gassen bemerkenswert schöne Häuschen aneinander; das kleingliedrige Durcheinander wirkte überraschend einheitlich. Moderne Bauten auf steilen Böschungen kontrastierten mit älteren Gebäuden. Sogar »Le Corbusier« hob die hiesige organische Architektur hervor.
Als die Busse hielten, war es natürlich vorbei mit dem Zauber. Die Amerikaner wurden als leichte Beute erachtet, jahrelang trainierte Geier umringten sie. Der »Wildwestkapitalismus« hatte den Abstand zwischen Touristen und normalen Bulgaren noch vergrößert. Ein jeder, der noch laufen konnte, wartete nun auf dem Parkplatz auf seine Chance, Kinder, selbst aus den entlegensten Vororten, Greise und Greisinnen, manche dürften sogar aus dem Grab auferstanden sein. Von Teenagern bis zu den Alten mit ihren goldenen Zähnen und einer Bibel unter dem Arm versuchte ein jeder, irgendetwas zu verkaufen oder, besser noch, zu stehlen, was bei näherer Betrachtung eigentlich aufs Gleiche hinauslief. Gestalten in Windjacken bildeten Gruppen, gingen herum, begrüßten die Amerikaner, tranken Bier, tätschelten die verschreckten Ausländer, umarmten sie, fassten sie unterm Arm, zeigten, was sie alles hatten, und gaben an. In mit Leinen abgedeckten Kiosken wurde chinesischer Plastikkrimskrams angeboten, ergänzt mit zu Hause ausgedruckten Postkarten und DVDs eines russischen Psychotronikers.
Die Mitglieder einer »Folkloregruppe« wirkten so, als hätten sie ihre Tiroler Kostüme bei Lidl eingekauft, doch sie trugen – weithin sichtbar – Unterhosen von Dolce & Gabbana. Viel zu laute Sängerinnen glichen eher Stripteasetänzerinnen, denn bulgarischen Müttern. Aus dem Kofferraum eines mächtigen Jeeps dröhnten elektronische Volkslieder. Einer bettelte, eine bot Oralsex an, der dritte wollte ausder Hand lesen, die vierte verkaufte Keramik, und der fünfte bot Türkischen Honig an.
Martin staunte, was für einen Lärm diese Masse hervorzubringen vermochte. Die betäubten Amerikaner wussten nicht, wohin sie sich wenden sollten. Der Spaziergang durfte nicht zu lange dauern, denn sonst würden die Reisenden beim Mittagstisch nackt sein, man würde ihnen nicht nur die Fotoapparate und Kameras abschwatzen, sondern auch ihre Kleidung und Unterwäsche. Es war ihm schon mehrmals passiert, dass barfüßige Kinder von irgendwelchen Amis Nikes, Reeboks oder Sketchers erbettelt hatten, nur um später in Gelächter auszubrechen, weil sie zu Hause bereits fünf Paar davon hatten.
Veliko Tarnovo hieß auch die Zarenstadt, und ihre Geschichte spiegelte den einstigen Ruhm Bulgariens. Die Gruppe spazierte durch eindrucksvolle Gassen zu den Ruinen des Palastes und zur alten Patriarchenkirche auf dem Carevac-Hügel. Die gigantischen Stadtmauern hatten den Angriffen der Türken drei Monate lang standgehalten. Die steinernen Mauern und Gewölbebögen wirkten wie Kulissen eines
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