Tod auf der Donau
den ganzen Tag lang Verdauungsprobleme. Entschuldigen Sie bitte, ich habe ihm eigentlich versprochen, dass ich dies niemandem erzähle. Wir haben auch schon den Arzt konsultiert. Sie wissen ja, bei diesem Übergewicht …«
Die Donau änderte ihre Farbe nunmehr in ein mattes Blau. Auf der Wasseroberfläche trieben Schaum und Ölschlieren. Am Ufer ragtenIndustrieruinen in die Höhe. Die Matrosen lagen an Deck herum oder stierten mit leeren Blicken vor sich hin. Die Sicherheitswache ging ständig auf und ab. Auf jedem Stockwerk stand ein Mann und hielt die Augen offen. Es herrschte ziemliche Ruhe, aufgeladen mit Erwartungen. Nur die Raben krächzten pausenlos.
In Bulgarien bildete die Donau gut 50 große Inseln; berühmt berüchtigt war vor allem Belene, wo 1949 ein Gulag errichtet worden war. Das Lager hatte 50 Jahre lang bestanden, die Häftlinge hatten sich auf Gemüse- und Hanffeldern zu Tode geschuftet. Man weiß bis heute nicht, wie viele Tausende dort umgekommen waren. Offiziell war es 1962 aufgelöst worden, doch insgeheim hatte es viel länger existiert; oft waren vor allem die Türken dort gelandet, die sich gegen die Bulgaren aufgelehnt hatten.
Nach dem Abendessen verschwand Martin in seiner Kajüte. Es ärgerte ihn, dass Mona sich im Speisesaal ans andere Ende des Tisches gesetzt und nur mit Dragan gesprochen hatte. Trotz aller Müdigkeit war ihm nicht nach Schlafen. Er schloss die Augen, durch den Kopf schossen ihm allerlei Gedanken.
Wer hätte einen persönlichen Vorteil von der Ermordung einer rumänischen Putzfrau und eines übergewichtigen Reisenden? Was motivierte den Mörder? Die allergrößten Übel beruhen nicht auf Böswilligkeit und Brutalität, sondern auf Schwäche. Martin kam zu keinem Schluss. Er fand keinerlei Anhaltspunkte. Keinen einzigen verfluchten kleinen Punkt.
24. FAMILIENESSEN
In Russe, der größten bulgarischen Stadt an der Donau, wachte Martin schon am frühen Morgen auf. Am gegenüberliegenden Ufer konnte man die rumänische Stadt Giurgiu erkennen. Im 19. Jahrhundert war Russe die reichste Stadt der Region gewesen. Die erste bulgarische Zeitung wurde hier publiziert, die Marineschule und Wetterstation eröffnet. Doch in diesen Tagen nutzten all diese Errungenschaften den Bewohnern gar nichts mehr. In den letzten Jahren sank die Einwohnerzahl um 50.000. Sogar die McDonalds-Filiale ging pleite.
Am Hafen sah Martin die sonderbarsten Gestalten aus allen Ecken der Welt. Jede Woche kamen dutzende geldgierige Neulinge – stattliche junge Männer vom Balkan, Südafrikaner, Russen und Chinesen. An der Peripherie häuften sich Verkaufsbuden, Lagerhallen und Kneipen. Im Wasser lagen Schiffe vor Anker. Die Raben flogen weiter über dem Schiff herum, als wollten sie seinem Bann entfliehen, doch es gelang nicht, immer und immer wieder landeten sie erneut auf dem Oberdeck und krallten sich am Holz fest.
Für heute hatte Martin die
incredible real life experience
geplant. Die Passagiere wurden in kleinen Gruppen von bulgarischen Ureinwohnern eingeladen und bekocht. Die ADC verkaufte diesen Ausflug als eine Reise ins authentische Dorfleben und war überaus stolz auf dieses Produkt, das – wohl aus gutem Grund – kein anderes Reisebüro in seinem Programm hatte. Die »Interaktion mit der lokalen Bevölkerung und zugleich Hilfe für jene, die sie am dringendsten brauchen« sollte ein unvergessliches Erlebnis für jeden Teilnehmer werden.
Als angeblich idealer Ort wurde Veliko Tarnovo ausgewählt, die Hauptstadt des zweiten bulgarischen Staates im frühen Mittelalter. Martin mochte das Städtchen durchaus, doch alles andere hielt er füreine ausgemachte Katastrophe. Der regionale ADC-Vertreter hatte ihn einmal davon unterrichtet, dass die Vertragsbedingungen mit einer auf dem Tisch liegenden Pistole ausverhandelt und Bedingungen auch nur von einer Seite diktiert wurden.
Veliko Tarnovo gehörte zu den wenigen Orten dieser Gegend, in der die Einwohnerzahlen nicht sanken, vielmehr regelmäßig zunahmen; mittlerweile lebten gut 70.000 Menschen hier. Die Amerikaner brachen – unter Martins Leitung – um zehn Uhr auf, schließlich war eine 106 Kilometer lange Strecke zurückzulegen. Die Busse desselben Transportunternehmens wie gestern boten natürlich denselben miserablen Komfort. Der Reiseführer sprach ein dermaßen unverständliches Englisch, dass Martin sogar für ihn einsprang. Loswerden konnte er den jungen Mann allerdings auch nicht mehr, denn er war der Neffe des Cousins des
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