Tod auf der Donau
ihm obendrein während einer improvisierten Operation wichtige Nervenstränge durch, sodass die eine Hälfte von Imrichs Gesicht für immer erstarrt blieb. Diese Verletzung härtete ihn jedoch noch weiter ab.
Die Bewilligung zur Weiterfahrt erfolgte erst Mitte September. Die
Pentcho
durfte, an zwei rumänische Militärschiffe gekettet, weiterfahren, doch kaum in Bulgarien angekommen, wurde sie wieder zur Umkehr aufgefordert; die Menschen waren verzweifelt. Der Kapitän ließ eine gelbe Fahne in den Wind hängen. Lichtenfeld beschriftete eine große Tafel: »Wir hungern – wir sind krank – wir haben keine Medikamente«. Doch nur das Dampfschiff
Melk
, welches jüdische Flüchtlinge aus Wien an Bord hatte, leistete Hilfe; alle anderen beachteten die
Pentcho
nicht und fuhren einfach weiter.
Nach vier quälenden Monaten kam die Besatzung schließlich doch noch in Sulina an, alle waren in einem elenden Zustand, kein Schiff wartete auf sie. Lichtenfeld beriet sich mit dem Kapitän, und man beschloss, die Fahrt fortzusetzen. Doch die
Pentcho
war nicht für eine Seefahrt gerüstet. In dieser ausweglosen Situation waren jedoch alle bereit, es dennoch zu riskieren. Sprachen sich Mut zu, indem sie behaupteten, ihnen würde keine Gefahr drohen, wenn sie nah genug am Ufer blieben.
Am 23. September passierten sie die Meerenge am Bosporus. Im Hafen von Istanbul anzulegen wurde den Juden jedoch verwehrt, man beschoss sie sogar. Männer mit Turban und Frauen in schwarzen Hidschabs drohten ihnen mit den Fäusten. Sie wurden mit Schimpfwörtern überschüttet, die brüllende Masse gebärdete sich wie wild, und so wechselte der Kapitän lieber schnell seinen Kurs.
Das Schiff kam schließlich ins Marmarameer und passierte die Dardanellen, so gelangte man bis zur Insel Lesbos. Die Besatzung erneuerte ihre Vorräte, und das Schlimmste schien hinter ihnen zu liegen. Die Weiterfahrt über das Ägäische Meer wurde jedoch zunehmendkomplizierter. Es herrschte brütende Hitze, und das Deck glühte in der gleißenden Sonne. Die zerlumpten Menschen erinnerten an geblendete Tiere. Die
Pentcho
kämpfte auf offener See mit immer neuen Störfällen, bis die Dampfmotoren gänzlich versagten; zuletzt explodierte der Dampfkessel, und das Schiff neigte sich heftig zur Seite. Lichtenfeld, unverwüstlich wie er war, ließ improvisierte Segel setzen, mit deren Hilfe sie bei der nächsten Insel anlegen konnten. Doch die ungeduldigen Passagiere wollten möglichst schnell ans Ziel kommen. Am 9. Oktober brach das Schiff, das nun kaum noch zu steuern war, erneut auf. Die Pumpen brachten jedoch nicht mehr die benötigte Leistung, immer mehr Wasser drang ins Schiff, und am Abend kenterte es schließlich in der Nähe einer unbekannten Insel. Wie durch ein Wunder wurde niemand verletzt.
Auf diesem wüstenartigen Stück Land (mit einer Länge von circa zwei Kilometern) gab es weder Pflanzen noch Leben. Imrich Lichtenfeld und vier weitere Männer brachen in einem Rettungsboot auf, ohne Navigationsgeräte und mit nur wenig Essensvorräten, um irgendwie nach Kreta zu gelangen und Hilfe zu holen. Vier Tage lang wurden die Schiffbrüchigen von Gewittern über das Meer getrieben. Am fünften Tag wurden die fast toten Männer von einem britischen Aufklärungsflugzeug entdeckt und gerettet. Die auf der Insel zurückgebliebenen Gefährten mussten noch weitere zehn Tage ausharren, bis sie schließlich ein italienisches Schiff aufnahm und in Gefangenschaft brachte.
Der abgemagerte Imrich Lichtenfeld wurde nach Alexandria gebracht. Nach gut einem Jahr trat er den tschechoslowakischen Truppen im Nahen Osten bei. Während der vielen Kämpfe erhielt er mehrere Auszeichnungen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nahm er in Israel den hebräischen Namen Imi Sde-Or an und wurde ein berüchtigter Mossad-Ausbilder. Zum Weltruhm gelangte er schließlich durch eine von ihm erfundene, neue Selbstverteidigungs- und Nahkampftechnik, die »Krav Maga«. Als deren Basis wählte er Bewegungsmuster, die sich schon während der Kämpfe in den dunklenPressburger Gassen bewährt hatten. Bis heute steht das außerordentlich anspruchsvolle Training auf dem Lehrplan der israelischen Mittelschulen und Militärakademien, es zählt zudem zum fixen Bestandteil einer Ausbildung von Schiffsbesatzungen.
23. VERBLÜHTE DÖRFER
Fünfzehn Kilometer später verließ die
America
endgültig Serbien. Wenn der Wasserpegel tief stand, tauchten bei Radujevac, bei Donaukilometer 863, die Wracks deutscher
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