Tod auf der Donau
einziges Wort. Er konnte gar nicht fassen, was für eine Ausdauer die Matrosen beim Trinken hatten – er wäre bei dieser Menge längst tot. Er trank lieber in kleinen Schlucken und legte ausgiebige Pausen ein – dabei war er überglücklich, dass die Reise zu Ende ging und nun alles erlaubt war. Er dachte an Mona, überzeugt davon, dass sie eben jetzt mit jemandem schliefe.
Als er auf die Uhr sah, war es drei in der Früh. Er hatte in diesem furchtbaren Lokal sein Zeitgefühl vollkommen verloren. Er saß neben zwei Teenagern, jungen, dünnen, biegsamen Mädchen mit Storchenbeinen; er fühlte sich wie ihr Vater. Suang lag unterm Tisch, zwei Köche waren mit Prostituierten nach hinten gegangen, in den Darkroom. Martin fiel ein, dass das Schiff um vier Uhr ablegen musste, und trieb die Männer zurück. Es ging leichter, als er angenommen hatte. Die Pflicht siegte bei den Seeleuten über alles, sie hatten offensichtlich auch genug.
Als die wilde Truppe die Disko verließ, blieb Martin kurz stehen und beobachtete die Lichtspiegelungen auf dem Wasser. Er hatte die Donau noch nie so eigenartig verfärbt gesehen: schwarzgrün, wie das Gesicht eines zerfallenen Leichnams. Die Möwen flogen wie verwirrt hin und her und klapperten böse mit ihren Schnäbeln. Im Schilf gingen zwei Störche auf und ab.
In Tulcea teilte sich der Strom in drei Arme: Chilia im Norden, Sulina in der Mitte und Sfintu Gheorghe im Süden – dieser war fürgroße Schiffe unpassierbar. Vom Süden näherte sich eine unheilverheißende Wolke mit weißem Rand und kündigte einen Sturm an. Der erste Blitz erleuchtete jäh den Nachthimmel. Die Dunkelheit verlieh der
America
eine eigenwillige Aura. Martin kam müde und betrunken an Bord. Durch die offenen Türen drängte die Hitze nach innen. Die Raben erwarteten ihn wie immer und begannen zu krächzen.
Die Männer beschlossen, noch einen Schlaftrunk zu nehmen, sie schenkten auch Martin einen ein. Mit dem aufkommenden Wind schaukelte das Schiff immer stärker. Martin trank auf den Sommer, die Fahrt, Mona, die Nacht und den Fluss. Der Himmel zog sich zu, und über dem Wasser wälzte sich träger Nebel.
In diesem Augenblick schlug etwas Schweres am Ende des Decks auf. Es folgte ein Schmerzensschrei, der nur von einer Frau stammen konnte. Er brach ab. Martin erschrak, doch die anderen nahmen längst nichts mehr wahr. Trotz seiner Trunkenheit rannte er los, über das Deck, so schnell er konnte. Ein furchtbarer Verdacht keimte in ihm auf.
»Schnell, kommt mit!«, brüllte er.
Er wusste nicht, ob ihn noch jemand gehört hatte, ob sie ihm folgten oder nicht. Er fand die halbnackte Mona im hintersten Winkel des Decks. Ihre Hände waren nach hinten gebunden, sie war geknebelt. Blut tropfte aus ihren Mundwinkeln auf ihre Brust. Sie sah Martin erschrocken an, atemlos und geschockt, zerschlagen, geschunden, aber am Leben. Ihr linker Backenknochen sah zerschmettert aus. Als sie den Mund aufmachte, bemerkte er eine Lücke in der oberen Zahnreihe. Sie atmete schwer und schien gleich ohnmächtig zu werden.
»Was ist passiert?«, schrie er, als er ihren Mund und die Hände befreite.
»Ich weiß nicht … Ich weiß nichts … ich … ich wollte«, stotterte sie und deutete nach rechts.
Er blickte sich um und sah, wie gerade die Luke zum Unterdeck zuklappte. Der Täter floh.
»Bleib hier. Ich bin gleich wieder da!«
Sein Verdacht nahm endlich Gestalt an. Martin hatte noch nie die Abkürzung für Seeleute zum Unterdeck genommen, offiziell durfte er das gar nicht. Mit Mühe hob er den Deckel an. Er tastete sich mit den Füßen vor und fand die Leiter, die nach unten führte.
Er kam bis zur letzten Sprosse, neigte sich ein wenig vor und ließ sich fallen. Es war kalt und roch modrig. Das Lager sah aus, als würde es von Geistern bewohnt werden. Er hatte rasende Kopfschmerzen, glaubte, sich sofort übergeben zu müssen. In der Dunkelheit tastete er sich vor, in die Nähe der dröhnenden Maschinen. Der Unbekannte musste dort irgendwo stecken.
Er blieb stehen und lauschte angestrengt. Von irgendwo kam ein Geräusch. Das Knistern war schwer zu orten, zwei Ohren an einem besoffenen Kopf waren auch keine große Hilfe. In der Finsternis konnte er nun zahlreiche Ecken und Nischen ausmachen. Jemand bahnte sich einen Weg zwischen den Kisten hindurch. Martin lief an einer Reihe Gefriertruhen und Schränke vorbei.
Plötzlich setzte sich die
America
in Bewegung. Das Ablegemanöver riss Martin zu Boden und ließ ihn nach Luft
Weitere Kostenlose Bücher