Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tod auf der Northumberland: Roman - Ein Fall für John Gowers (German Edition)

Tod auf der Northumberland: Roman - Ein Fall für John Gowers (German Edition)

Titel: Tod auf der Northumberland: Roman - Ein Fall für John Gowers (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Twardowski
Vom Netzwerk:
Kolumnen, Zeilen und Überschriften als grafische Elemente. Es war eine einfache Gedächtnisübung: Jeder Artikel war eine Frage, jeder Satz eine Antwort, jedes Wort eine Information. Er beherrschte dieses System im Schlaf und hatte auf diese Weise alle ihm bekannten Fakten eines Falls ausgebreitet vor Augen, ohne sich auch nur eine einzige Notiz zu machen.
    Um sich Gesichter, Namen, Räume, Wege, Zahlen einzuprägen, benutzte er andere Schemata, meistens den großen Fluss, den er als Lotse befahren hatte und dessen Points 3 , Snags 4 , Sandbänke, Uferlinien, Stromschnellen und Inseln
ihm bei Tag und bei Nacht, flussaufwärts, flussabwärts, bei Hoch- und Niedrigwasser auf den Meter genau sagten, wo er sich befand. Oft aber auch die lullschen Gedächtnisscheiben, weil sie beliebige Kombinationen der Dinge ermöglichten, ohne den Überblick zu verlieren. Je nach Sachlage aber auch Ableitungsbäume: Wer kennt wen, wer weiß was – und welche Folgen hat das?
    Nach exakt zehn Minuten und dreißig Sekunden legte er die Zeitung beiseite, drückte seine Zigarre aus und erhob sich. Eden und Merriwell konnten sich acht Pfund teilen.
    »Ach, Mr. Thompson«, rief der nicht erbberechtigte Lord, »was gibt’s denn so Neues?«
    »Napoleon serviert Bismarck in Biarritz die Österreicher auf einem goldenen Teller, die Juaristen sind im Vormarsch, Francis Train kandidiert als Präsident, und ein Generalmajor Burtlock ist wegen Mordes hingerichtet worden. Aber das ist natürlich alles schon wieder Geschichte! Gute Nacht, Gentlemen.«
    Eden versank in missmutige Grübelei. Auch Edward Bell sah dem seltsamen Mr. Thompson nachdenklich hinterher, aber der hatte die Tür noch nicht geschlossen, da stürzte sich der feiste Kaufmann auch schon mit einer ganz erstaunlichen Geschwindigkeit auf die Zeitung, ließ sie nach wenigen Sekunden wieder sinken und sagte: »Sie schulden mir sechzehn, Mylord!«

28.
    Ein Gedächtnis wie ein Elefant zu haben, hatte schon seine Mutter dem kleinen Jungen bescheinigt, und stets war das mehr Vorwurf als nüchterne Feststellung oder gar Kompliment
gewesen. Etwas von Dickkopf, Sturheit, Unversöhnlichkeit schwang darin mit, und tatsächlich fiel es dem Investigator noch heute schwer, insbesondere Beleidigungen oder Streitigkeiten zu vergessen. Verzeihen vielleicht. Vergessen nie.
    Als er, damals im Eis, verwundet und mehr aus Verzweiflung, angefangen hatte, sich mit der Ars Memorativa , dem künstlichen Gedächtnis, zu beschäftigen, die ersten Gedächtnistraktate las, hatte er das Ganze zuerst für eine Art mechanisches Spielzeug fantasieloser Geister gehalten. Trocken und langweilig wie der Herrnhuter Missionar, der ihm die Traktate zu lesen gab und der dabei doch ein bemerkenswert guter Jäger war, der beste an Bord.
    Aufeinanderfolgende Räume sollte man sich denken oder anders zusammenhängende Orte, an denen man seine Gedanken in logischer Folge ablegt, sodass der Erinnerungsvorgang nachher so kontrolliert abläuft wie der Weg durch ein gut bekanntes Gebäude. Cicero hatte angeblich in den Gerichtssälen, in denen er sprach, Gegenstände – Speer, Schild, Schwert und was die alten Römer so hatten – an die Wände gehängt, die ihn an seine Argumente und ihre Abfolge erinnern sollten.
    Gedächtnisräume! Gedächtnisorte! Ein so verstandenes Gedächtnis war ihm vorgekommen wie ein Setzkasten für Ordnungsfanatiker. Ein gutes Erinnerungsvermögen funktionierte auch ohne diese Schubladensysteme, und ein schlechtes wurde dadurch so wenig verbessert, wie eine geschmacklose Wohnung durch pedantisches Aufräumen schöner wird.
    Erst nach und nach erkannte er das Spielzeug als Werkzeug, kam ihm die Erkenntnis, dass Erinnerung nichts ist, was man hat, sondern etwas, das man erzeugt, hervorbringt. Das Gedächtnis war weder eine gemütliche Rumpelkammer noch ein wohlsortiertes Archiv, es war eine Leinwand, auf der der Geist
seine Bilder entwarf. Und wo der gewesene Affe nur mit beiden Pfoten in die Farbtöpfe seiner Wahrnehmungen, Eindrücke und Empfindungen langen konnte, da bot die Gedächtniskunst der Fantasie Farbskala, Raster und einen sicheren Halt. Das erkennend fing John Gowers an, Welten zu erschaffen. Parallelwelten, gewesene, zukünftige, mögliche.
    Irgendwann reichte sein Gedächtnis nicht nur nach rückwärts, umfasste nicht nur die relativ witzlose Betrachtung des immer bereits Vergangenen, sondern berücksichtigte alle oder doch möglichst viele der in den Dingen liegenden Möglichkeiten. Und

Weitere Kostenlose Bücher