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Tod auf der Northumberland: Roman - Ein Fall für John Gowers (German Edition)

Tod auf der Northumberland: Roman - Ein Fall für John Gowers (German Edition)

Titel: Tod auf der Northumberland: Roman - Ein Fall für John Gowers (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Twardowski
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paradoxerweise schien ihm das der Wirklichkeit angemessener zu sein. Die Welt war nicht, sie wurde, pausenlos. Deshalb war eine Orientierung über den wahren Zustand der Dinge in Wirklichkeit eine Orientierung über ihren Vorgang. So bekam er schließlich einen Begriff von der Welle, über die seine Mutter gesprochen hatte, an ihren schlechteren Tagen, den dunkleren Stunden: die Welle, die alles ist und alles davonträgt, sogar sich selbst. Mit seiner Gedächtniskunst glaubte John Gowers, sie fassen zu können.

29.
    Als der Investigator in die Kabine kam, schlief Emmeline schon seit Stunden. Es gehörte zu ihrer stillen Übereinkunft, dass er ihr beim Zubettgehen den Vortritt ließ, dennoch würde man diesen Bruder-und-Schwester-Zustand nicht mehr lange aufrechterhalten können.
    Er merkte, dass sie unter seiner nächtlichen Anwesenheit litt, und obwohl sie sich tagsüber nach Möglichkeit aus dem Weg gingen, zerrten ihre zweifelnden Blicke allmählich an seinen Nerven. Er wusste, wann ein Mensch sich fragt, ob er
einen Fehler gemacht hat. Und dass es dann nur noch eine Frage der Zeit war, bis böse Worte fielen.
    Gowers überlegte, wie sinnvoll es wohl wäre, ihr seine bisherigen Ergebnisse mitzuteilen. Wenn sie aber damit gleich in Charleston wieder zur Polizei liefe, um die Geschichte von diesem unmöglichen Selbstmord zu erzählen, wäre nicht nur seine Seereise vorbei, sondern auch die ganze Ermittlung für die Katz; keine Chance mehr, den wirklichen Sachverhalt aufzuklären. Denn bisher wusste er nur, was nicht geschehen war.
    Im trüben Licht der Kerze, die er entzündet hatte, zog er Rock und Stiefel aus. Als er sich zu den Kojen umdrehte, sah er, dass Emmeline sich aufgedeckt hatte, sah ihr nacktes Bein, das Nachthemd, das bis zum Schenkel hochgerutscht war. Und obwohl sie noch immer eine nur durchschnittliche Schönheit war, spielte er doch mit mehr als dem Gedanken, sie fürsorglich wieder zuzudecken. Dann schüttelte er aber kurzentschlossen den Kopf, blies die Kerze aus und weckte sie dadurch, dass er ihren Fuß berührte, als er in die obere Koje stieg.
    »Können Sie nicht ein bisschen vorsichtiger sein!«, murmelte Emmeline und drehte sich zur Wand, die Decke wieder fest um den Leib gezogen.
    »Entschuldigung«, sagte Gowers, zog im Liegen seine Hose aus und legte sie zusammengerollt unter seinen Kopf.
    »Sie haben geraucht!«, kam es missbilligend-müde von unten.
    »Gute Nacht!«, sagte Gowers und ging mit geschlossenen Augen noch einmal durch, was nicht geschehen war.
    Er war auf Deck auf und ab gegangen und hatte sich vorgestellt, Samuel Thompson zu sein. Lebensmüde bis dorthinaus und entschlossen, heute Nacht ein Ende zu machen.
    Als ehemaliger Corporal der Artillerie konnte er eigentlich
kaum dumm sein, Kanoniere müssen zumindest rechnen können. Einem Kavalleristen in gleicher Lage hätte man jedenfalls eher zutrauen können, zwecks Selbsttötung erst mal zwölf Meter in die Takelage zu klettern. Unterwegs seine Brille zu verlieren, halb blind auf der Großrah zu hocken und sich in aller Ruhe und Albernheit den Strick um den Hals zu legen.
    Anschließend hätte der Mann sich noch bäuchlings über die Rah legen und sein Seil mit einem fachmännischen Seemannsknoten festknüpfen müssen, um dann so sanft wie möglich hinabzugleiten und sich hübsch langsam zu strangulieren, ohne dabei seinen friedvollen Gesichtsausdruck zu verlieren.
    Andererseits waren drei Männer nötig gewesen, um den hundertachtzig Pfund schweren Leichnam von der Rah zu holen. Wer mochte kräftig genug sein, ihn allein und insgeheim dort oben aufzuknüpfen? Oder waren Samuel Thompson und sein Mörder gemeinsam aufgeentert und hatten sich erst in der Takelage mörderisch zerstritten?
    Die regelmäßigen Atemzüge Emmeline Thompsons verrieten ihm, dass sie über ihrer Entrüstung eingeschlafen war, und so setzte Gowers nun hinter den geschlossenen Lidern sein Ermittlungssystem in Gang. Er wählte die Ars Combinatoria , die lullschen Drehscheiben, weil sie ihm die beliebige Kombination seiner Fakten und Vermutungen ermöglichten.
    Als der mittelalterliche Mystiker Raymundus Lullus dieses geniale System erdachte – ehe ihn die widerspenstigen Heiden Nordafrikas zu Tode steinigten –, wäre er bei aller kombinatorischen Fantasie wohl nicht darauf gekommen, dass sechshundert Jahre später ein New Yorker Ermittler solche Drehscheiben und Rotoren einsetzen würde, um einen Mörder zu fangen. Das Prinzip war ganz einfach: Auf

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