Tod auf der Northumberland: Roman - Ein Fall für John Gowers (German Edition)
befand – jedenfalls im Verhältnis zu den Orten, an denen er schon gewesen war.
Van Helmont hatte allerdings nur gemurmelt: »Ich mache immer Licht, wenn ich nichts sehen kann, und das hat meiner
Orientierung auch nie ernsthaft geschadet.« Aber Gowers hatte schon sein Rollmaß hervorgeholt und begonnen, den Mann und seine Bewegungen auszumessen.
Der Arzt musste also eigentlich nur seine Schritte zählen. Aber jetzt, weit nach Mitternacht und im Bauch des riesigen alten Schiffs, zog er es doch vor, eine Handlampe zu entzünden, kaum dass er das Schott zum Heckstauraum hinter sich gebracht hatte. Sofort sprangen merkwürdige Schatten auf, und Van Helmont hätte geschworen, dass sich einer davon bewegt hatte, aber er schrieb es dann seiner Nervosität zu. Man legt schließlich nicht jeden Tag einen Schwelbrand.
Hier unten war sogar die Luft alt. Er musterte die geteerten Planken, das schwere Gebälk der Spanten und dachte unsinniges Zeug. Wann seid ihr gewachsen? Wo seid ihr gewesen? Was habt ihr gesehen?
Das Holz knackte und knarrte feindselig unter seinen Schritten, und dabei beschlich ihn das unwirkliche Gefühl, dass das Schiff wusste , was er vorhatte. Weit unter seiner wissenschaftlichen Vernunft, seiner langen Erfahrung mit den natürlichen und sichtbaren Dingen flüsterte eine dünne, hohe Stimme, dass auch Schiffe eine Seele haben, dass sie schreien im Sturm und stöhnen im Untergang. Und zum ersten Mal, seit er an Bord war, wurde er sich der namenlosen Tiefe unter seinen Füßen bewusst.
Wie tief war der Atlantik hier? Zweitausend, dreitausend Meter? Und unten die düsteren, unbekannten Gebirge; scharfe, unsichtbare Grate, die die sinkenden Schiffe zerbrachen auf ihrem Weg in noch tiefere Täler, dunklere Schluchten bis hinunter zum Grund, bedeckt mit dem Urschlamm lichtloser Äonen …
Die Vorstellung gruselte ihn wie ein kleines Kind.
Dann siegte der Mediziner in ihm, und dessen gewohnt
ruhige Stimme erinnerte ihn mit trockener Ironie daran, dass einem Ertrinkenden nach den ersten zwei, drei hässlichen Metern alles Weitere ziemlich egal sein konnte. Dennoch räumte er, an der bewussten Stelle angekommen, alles leicht entzündliche Material, Tuchballen, Kleiderkisten beiseite, um von der Northumberland nicht mehr als unbedingt notwendig zu verbrennen.
Er fand einen Sack mit Hafer, der ihm für seine Zwecke ideal zu sein schien, schlitzte ihn auf und befeuchtete den Inhalt sorgfältig mit dem Wasser aus der mitgeführten Feldflasche. Spickte ihn dann mit den ölgetränkten Lumpen, in die er mehrere seiner Socken verwandelt hatte, und fügte hier und da noch einen Schuss Schwefelwasserstoff hinzu, als sei es die Verzierung auf einer Torte. Stolz betrachtete er sein Werk, als ein Geräusch, das er sich unmöglich eingebildet haben konnte, ihn zusammenfahren ließ.
In Sekunden sprang ihn wieder das unheimliche Gefühl an, dass Augen auf ihn gerichtet waren. Ratten, dachte er, Katzen! Aber die Haare standen ihm trotzdem zu Berge, als er mit ausgestrecktem Arm den stickigen dunklen Raum mit seinen vielen Verstecken ausleuchtete und sich schlagartig darüber klar wurde, dass man ihn dabei immer noch weit besser sehen konnte als er … was auch immer!
Van Helmont atmete tief durch.
Das nächste Schiff zündet er selber an, dachte er, sah auf seine Taschenuhr und ließ dann ein brennendes Zündholz auf die vorbereitete Brandstätte fallen. Im gleichen Moment hörte er ein schleifendes Geräusch unmittelbar hinter sich, und nun war kein Halten mehr. Mit Sätzen und Sprüngen, die jeder exakten Schrittabmessung Hohn sprachen, schoss nicht der Arzt und Wissenschaftler, sondern der kleine Francis Van Helmont davon, dem vor vierzig Jahren im tiefen Süden
von Alabama eine schwarze Amme die seltsamsten Schauergeschichten erzählt hatte.
59.
Oben klappte alles wie am Schnürchen. Kaum fünf Minuten nach der vereinbarten Zeit roch Gowers die ersten Wolken von Rauch und Schwefelwasserstoff. Er wartete vorsichtshalber noch eine kleine Weile, dann donnerte er mit dem Schreckensruf »Feuer! Feuer!« an alle Kabinentüren der ersten Klasse.
Das erste interessante Ergebnis war, dass der Schiffsjunge Barclay, um Längen vor allen anderen, aber dennoch nur halb angezogen, aus Lord Edens Kabine stürzte und nicht Hilfe oder Löschwasser, sondern einfach das Weite suchte. Seine Lordschaft ließ sich deutlich mehr Zeit, dafür war der Kabinengang binnen Minuten mit hysterisch umherspringenden Missionarsgattinnen und
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