Tod auf der Northumberland: Roman - Ein Fall für John Gowers (German Edition)
deshalb Ben in den Flöz hinauf, daraufhin trat der Hauer die Kohle lieber mit den Füßen nach unten.
Nur zweimal während seiner Schicht kam er selbst hinunter. Einmal, um zu essen und eine Zwei-Liter-Feldflasche mit Wasser fast auf einen Zug leer zu trinken. Einmal, um ungeniert vor den Kindern den Eimer zu benutzen, der unabgedeckt in der niedrigen Strecke stand und von allen benutzt wurde. Da in dieser finsteren Welt ohnehin jeder alles von jedem wusste, störte sich nicht einmal Jane daran.
»Immerhin nimmt er den Eimer«, hatte Beth ihr zugeflüstert, als sie den jungen Mann zum ersten Mal dort hocken sah, und hatte von anderen Männern haarsträubende Dinge erzählt.
Gegen Ende der Schicht, die Frauen waren gerade mit dem vorletzten Wagen den Gang hinauf verschwunden, kam der Hauer wieder heraus, schwarz wie ein Teufel und nackt wie der dazugehörige Sünder. Zwei riesige Hände packten Ben und schoben ihn in das Loch.
»Kriech mal rein, Kumpel, ganz nach vorn, und schlag ein bisschen was ab!«
Ben sah den Mann nur völlig überrascht an. Davon hatte seine Mutter ihm nichts erzählt.
»Mach schon, und lass dich ’ne Weile nicht sehen.« Der Hauer gab ihm einen derben Stoß und blieb alleine mit Mary-Ann. »Und du hältst dein Maul!«, hörte er ihn noch sagen.
Vorn, ganz vorn, an der Stelle, wo sich die eisernen Werkzeuge der Männer in den Berg fraßen, saß ein fünfjähriger Junge und sah sich verwundert um. Er hatte keine Angst, weil er nicht wusste, wo er war. Neben und über ihm kein Ausbau mehr, nichts als das nackte Gestein. Ben legte sich auf den Bauch, inmitten der Kohleader. Er sah, wo der Mann die Ader aufgekratzt hatte, fuhr mit den Fingern über die glatte, leicht glänzende Stelle. Dann nahm er den kalten Meißel auf, den viel zu schweren Hammer, und kleine schwarze Splitter brachen aus dem Berg.
61.
Weit unten im Süden, in der Nähe von London und an einem anderen Tag, in einem anderen Jahr, hob ein kleiner Junge die Splitter auf. Sie lagen vor dem Kamin. Seine Finger wurden schwarz dabei. Das war neu, das war lustig.
Man konnte damit auch auf Kleidern und Wänden schwarze Striche ziehen, und selbst der Wachsoldat, der dabeistand, konnte sich nur mit Mühe das Lachen verbeißen. Er überlegte kurz, was zu tun sei, dann ließ er den Jungen gewähren. Das Vaterland erwartete von ihm, und seine Vorgesetzten hatten ihn dazu erzogen, dass er nicht sah, was die Herrschaften taten. Oder sich nicht ansehen ließ, dass er es sah.
Ein Zimmermädchen bemerkte schließlich das Kichern des Kindes und dann auch den Grund für das Kichern. Sie sagte es einer Gouvernante. Die Gouvernante holte den Pädagogen herbei, der Pädagoge, sprachlos, informierte den Kammerdiener, und der Kammerdiener verständigte behutsam die Königin.
Viktoria, die sich angeblich nie umsah, wenn sie sich setzen wollte, sondern erwarten durfte, dass man ihr immer und überall rechtzeitig einen Stuhl oder Sessel unter den Unnennbaren schieben würde, sah sich zu exekutiven Maßnahmen genötigt. Zuerst musste der Mensch entlassen werden, der die Unsauberkeit am Kamin zu verantworten hatte; ein Wink, ein Federstrich. Dann befahl sie dem immer noch fassungslosen Pädagogen in der wachsenden Ansammlung ihrer Domestiken: »Emerson, nehmen Sie Master Edward diesen grässlichen Gegenstand weg!«
Das Kind erstarrte, wie immer schuldbewusst, das schöne Spielzeug verschwand. Dann hörte der Prince of Wales diese
immer so leise Stimme, die sein Leben, das Britische Empire und ein ganzes Zeitalter prägen würde: »Das ist Kohle, Sir! Sie werden nie wieder Kohle anfassen. Sie ist sehr schmutzig.«
62.
Diese Dinge kamen häufig vor, trafen Frauen, Mädchen und die kleineren Jungen. So oft, dass die Pfarrer deswegen bei den Grubenherren vorsprachen und hin und wieder allen Ernstes der Vorschlag gemacht wurde, nur Ehepaare in der gleichen Schicht einzusetzen. Oder nur ältere Frauen, ältere Männer.
Manchmal breiteten sich diese Dinge wie eine Epidemie in den Gruben aus, sprangen von Tal zu Tal; die Eingeweihten erzählten es denen, die noch nie daran gedacht hatten, und dann endete die Seuche erst, wenn die gröbsten Übeltäter verschwanden oder wenn ein Arzt unter den jungen Männern das Gerücht ausstreuen konnte, die im Berg gezeugten Kinder kämen ohne Augen zur Welt.
Mary-Ann erzählte niemandem davon, aber sie bemerkten es, als Ben immer öfter und nicht ohne Stolz erzählte, dass er heute wieder Kohle geschlagen hatte.
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