Tod auf der Piste
Bett gegangen wäre?« Irmi sah sie aufmerksam an.
»Ob Sie mir das glauben oder nicht: Es ist mir egal.«
»Die beiden sind aber über dreißig Jahre zusammen.«
»Ja, und zuletzt hat Maria lediglich der Kirche gedient. Um in Ettal den äußeren Schein zu wahren. Die Ehe ist schließlich ein heiliges Sakrament.«
»Wer war dann der Mörder? Hubert Deubel?«, fragte Irmi.
»Nein, seine Frau hat ihn freigegeben. Sie verlässt diese Welt demnächst. Warum hätte er Ernst ermorden sollen?«
»Die Klosterbrüder? Der Cellerar oder der Schulleiter?«
»Nein, sie hätten perfidere Methoden gekannt.«
»Rieger, der Krötenschänder?«
»Nein, weil Choleriker nicht planvoll agieren.«
»Quirin Grasegger?«
»Nein, der ist zu feige. Aufgeblasene Menschen sind immer feige.«
»Wer dann, Frau Jochum?«
»Jemand, der sein Gewissen beruhigen konnte, vielleicht gar nicht gemordet zu haben. Jemand, der das nicht als Mord empfunden hat. Niemand hätte Ernst Buchwieser wirklich ermorden wollen.«
»Unwirklich kann man aber nicht morden. Es wurde wirklich geschossen. Ihr Freund ist wirklich tot.«
Martina Jochum musterte Irmi, so als müsse sie herausfinden, ob Irmi es überhaupt wert sei, dass sie sich die Mühe gab, es noch einmal zu erklären. »Obwohl ich, die ich von Sprache lebe, das nicht sagen sollte: Ich kann es schlecht formulieren. Es ist ein unterschwelliges Gefühl. Das war kein herkömmlicher Mord.«
Irmi hatte eine Ahnung davon, was Martina Jochum sagen wollte. Es deckte sich mit ihren Gefühlen. Herkömmlich war gar nichts an diesem Fall. Nach einer Weile fragte sie: »Was werden Sie jetzt tun?«
Martina Jochum lächelte. »Ich war nie der Typ Augen zu und durch. Nein, mein Motto lautet: Augen auf und durch, denn auch in unangenehmen Situationen sieht man Neues, das Auge ist sensibilisiert. Ansonsten werde ich versuchen zu überleben. Das Geschenk annehmen, dass ich zumindest ein Mal erfahren durfte, was Liebe ist. Dass ich zu den Erwählten gehöre, die eine kurze Zeitspanne lang den Himmel berühren durften.«
Aus jedem anderen Mund hätte das pathetisch geklungen, aus ihrem klang es schlicht und wahr. Irmi beschloss, tatsächlich mal eines ihrer Bücher zu lesen, und sie spürte wieder diesen Stich. Sie hatte ihn noch. Fern und selten, aber er war immerhin am Leben. Martina Jochum hatte ihren Liebsten verloren.
Ihr Gegenüber fuhr fort: »Ich gehe für ein halbes Jahr nach Island. Eigentlich hatte Ernst mitkommen wollen. Es ist ein Literaturstipendium, das sich an Schriftstellerinnen richtet. Wir werden uns auf das Wagnis dieser besonderen Insel einlassen und jede eine Geschichte zu einem Sammelband beitragen, der ›Fenja‹ heißen wird. Das ist Isländisch und bedeutet ›Riesin‹.«
»Wann reisen Sie ab?«, fragte Irmi.
»Nächste Woche.«
»Egal, ob der Mörder bis dahin gefasst ist?«
»Ich habe mich schon von ihm verabschiedet.« Martina Jochum schluckte schwer. Dann nestelte sie an ihrer Jackentasche und zog eine Karte heraus, die sie Irmi reichte. »Meine Telefonnummern, meine E-Mail-Adresse, alle Kontaktdaten in Island, aber ich glaube, Sie finden den Mörder oder die Mörderin noch vor meiner Abreise.«
»Wäre das eine Genugtuung für Sie?«
»Nein. Ich werde übrigens auch nicht zur Beerdigung gehen. Ich hoffe doch sehr, dass sich die Seele schon längst in eine bessere Welt aufgemacht hat – egal, ob der Körper in Rauch aufgeht oder aber im Modergrab langsam verrottet.« Sie überlegte kurz und sagte dann scheinbar ohne Zusammenhang: »Obwohl christliche Beerdigungen besser auszuhalten sind.«
Irmi wusste, was Martina Jochum meinte. Es war gut, die Rituale zu kennen, die Litaneien mitzuleiern. Der strikte Ablauf reglementierte und fing auf. Nirgendwo sonst war der katholische Glaube so sehr eine Hilfe wie bei einer Beerdigung, weil er Platz ließ für eigene Gedanken. Sie war letztes Jahr auf einer Atheisten-Beerdigung gewesen. So hatten die Leute im Dorf das erbost genannt. Kein Pfarrer, dafür Reden von Freunden und Musik. Als Grönemeyers »Ein Stück von Himmel« ertönt war, hatte sie Menschen weinen sehen, denen sie keine Träne zugetraut hätte. Das war schlimmer gewesen, viel schlimmer!
»Gehen Sie auch nach Eschenlohe zurück?«, fragte Martina Jochum plötzlich.
Irmi nickte. Die beiden Frauen liefen schweigend nebeneinanderher. Der Nebel war aufgestiegen, die Dämmerung senkte sich herab. Bis sie an Irmis Auto angelangt waren, war es dunkel, und der Nebel
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