Tod Auf Der Warteliste
der Gedanke an seinen Zwillingsbruder gab ihm die Gewißheit, daß er ihn ohne mit der Wimper zu zucken durchführen würde. Nur für seine Flucht war er nicht vorbereitet. Aber er würde einen Weg finden, daran hatte er keinen Zweifel. In einer Grenzstadt konnte das nicht weiter schwierig sein. Seine Ausbildung in der rumänischen Marine war hart gewesen. Zu dem Kommando, dem er angehört hatte und das auf die Umsetzung schwierigster Vorhaben trainiert war, wurde man nur zugelassen, wenn man bei allen Tests unter den ersten zehn landete. Intelligenz, Kraft, Entschlossenheit – und bedingungsloser Gehorsam gegenüber dem Plan, selbst wenn er noch so aussichtslos schien. Bei den Übungen hatte man ihn mit verbundenen Augen unter Wasser gehalten und angegriffen, bis fast zum Ertrinken. Er konnte Minuten ohne Luft auskommen. Nur Panik durfte ihn nie befallen – die Devise hieß Ruhe behalten und sich befreien.
Um sieben Uhr brachte man ihn mit nüchternem Magen ins Labor. Blutentnahme. Blutdruck, Kreislauf. Die Sache war schnell erledigt. Nach dem Frühstück begleitete ihn Severino zu den Pferden und überschüttete ihn wieder mit seinen Freundlichkeiten. Er lobte ihn für die Hilfe, die er am Vortag erbracht habe. Und wenn es Dimitrescu gefiele, dann würde ihn der Arzt am Nachmittag auf die Pferderennbahn von Montebello mitnehmen, um das Training für den Sonntag zu sehen.
Der Pfleger war schnell stillgestellt. Er hätte ihm fast das Genick gebrochen. Das wollte er nicht. Er hatte nichts gegen den Mann. Es reichte, ihn zu knebeln, zu fesseln und hinter den Strohballen so zu verstecken, daß ihn die nächsten zwei Stunden niemand fand. Dimitrescu eilte zur Klinik zurück und versteckte sich auf dem Parkplatz vor dem Verwaltungstrakt, wo die Wagen der Direktion standen. Er mußte nicht lange warten, bis die kleine Trauergemeinde herauskam. Schwarze Kleidung, dunkle Brillen. Adalgisa Morena ging zwei Schritte vor den Männern und wartete vor einem Audi. Benteli hielt ihr die Beifahrertür auf. Severino stieg hinten ein. Langsam fuhren sie vom Hof. Dimitrescu zog den Schlüssel des Professors aus der Hosentasche und rannte zum Hintereingang des Verwaltungstrakts. Das Büro, unter dessen Fenster er am Vortag gelauscht hatte, fand er sofort. Der Schlüssel Severinos paßte auch da. Nur bei der Schreibtischschublade gab es kleinere Probleme, die aber schnell gelöst waren.
Er warf einen flüchtigen Blick in den prallgefüllten Umschlag und steckte ihn ein. Dann ging er hinaus in den Hof und setzte sich in den BMW. Er hatte noch nie am Steuer eines solchen Wagens gesessen, aber während des Ausflugs mit Severino hatte er keinen Handgriff des Mannes unbeachtet gelassen. Die Automatik machte ihm anfangs zu schaffen. Er brauchte eine Weile, bis er den Rückwärtsgang fand. Langsam rollte der Wagen zur Straße. Das Tor öffnete sich automatisch, als er die Lichtschranke durchfuhr.
Er bog rechts ab und trat aufs Gaspedal. Der Wagen machte einen gewaltigen Satz nach vorne. Nach ein paar Kilometern fühlte Dimitrescu sich sicherer. Er achtete intensiv auf den Verkehr. Wenn Severino und die beiden anderen aus irgendeinem Grund haltgemacht hatten, durften sie ihn auf keinen Fall sehen. Dimitrescu hatte sich den Weg während der beiden Ausflüge mit Severino gut eingeprägt, und nur selten mußte er zur Sicherheit einen Blick auf den Stadtplan aus dem Seitenfach werfen, den er auf dem Beifahrersitz ausgebreitet hatte. Seine Hände schwitzten am Steuer. Er wischte sie immer wieder an seiner Hose ab.
Die Zeit war knapp. Es war bereits nach halb elf, als Dimitrescu am Campo Marzio vor einem LKW anhielt und den Kofferraum des BMW öffnete. Ein Fernfahrer hantierte im Fußraum einer roten Scania-Zugmaschine ohne Lastenauflieger. Er sah nicht einmal, woher der Schlag in sein Genick kam, der ihn zusammensacken ließ. Dimitrescu fing ihn mit einem Griff unter die Achseln auf, zog ihn unbemerkt die paar Schritte zum BMW und legte ihn so vorsichtig, wie er konnte, in den Kofferraum. Er brauchte den Mann nicht zu fesseln oder zu knebeln. Wenn er in ein paar Minuten wieder zu sich kam, sich befreit und die Polizei verständigt hätte, wäre Dimitrescu bereits am Ziel.
Er schwang sich auf den Fahrersitz und startete. Schwarzer Dieselqualm stieß aus den Auspuffrohren, die über das Dach der Fahrerkabine ragten. Dimitrescu bog, ohne auf den Verkehr zu achten, auf die Straße ein und fuhr kurz darauf die vierspurige Superstrada
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