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Tod Auf Der Warteliste

Tod Auf Der Warteliste

Titel: Tod Auf Der Warteliste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veit Heinichen
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Festtag für die Gebißmacher. Nach der Schlacht lagen über fünfzigtausend Tote und Verwundete auf dem Feld. Es war die Stunde der Plünderer, die den Gefallenen die Vorderzähne ausbrachen. Zentnerweise trugen sie das Zeug davon und fertigten später künstliche Gebisse an. Zahnpflege stand ja damals nicht hoch im Kurs. Ihr könnt euch vorstellen, wie der Mundgeruch ganze Straßenzüge beherrschte. Der Bedarf für Zahnersatz war so hoch, daß die Dentisten sogar Gräber plünderten, selbst Gehenkten wurden die Schneidezähne rausgebrochen, und arme Leute verkauften ihre gegen Geld. Das war eine frühe Form von Organhandel.« Der Alte schnitt grinsend ein Stück Fleisch ab und steckte es in den Mund.
    Laurenti nutzte die Pause. »Galvano, es reicht. Wir essen.«
    »Du bist zu empfindlich. Hör lieber zu, hier kannst du etwas lernen. Also, die Waterloo-Zähne waren nicht die einzigen. Die Erbfolgekriege, Laurenti, weißt du, was das ist?«
    »Kann’s mir denken.«
    »Spanische, polnische, österreichische, bayrische Erbfolgekriege – wunderbare Quellen. Das Material wurde damals schon nach Amerika exportiert. Aber schon im fünfzehnten Jahrhundert gab es den Traum der Transplantation. Ein altes Gemälde zeigt Kosmas und Damian, das sind die Schutzheiligen der Ärzte, falls ihr das nicht wißt, wie sie das kranke Bein einer Nonne gegen das gesunde einer Leiche austauschen, und der liebe Gott schaut mit Wohlgefallen zu.«
    »Als würden Nonnen rauchen.« Laurenti verdrehte die Augen.
    »Ruhe! Ramses, du als Schweizer kennst sicher Kocher, den Chirurgen aus Bern, der Leuten mit Kropf die Schilddrüse entfernte. Die Operierten wurden schwachsinnig. Doch der gute Mann ließ sich nicht erschüttern und verpflanzte 1883 Schilddrüsengewebe in Hals und Bauchhöhle. Das war die erste offiziell verzeichnete Transplantation überhaupt. Aber auch in Wien gab es einen, der zwischen Hunden und Katzen und Schafen so ziemlich alles verpflanzte. Er entdeckte, daß es Organe gab, die auch an anderen Stellen ihren Dienst taten. Die Leute damals operierten wie die Besoffenen. 1905 setzte ein Franzose einer Katze Herz und Lunge einer anderen in die Halsschlagader und ein Jahr später nähte ein Landsmann von ihm eine Schweineniere in die Ellbogenbeuge einer Frau. Der war bereits auf dem richtigen Weg. Ein Berliner versuchte es mit einer Affenniere. Seine Patientin überlebte zweiunddreißig Stunden. Und Hunden wurden die Köpfe anderer aufgepflanzt. Bobtail mit Mastinobirne, wunderbar!«
    »Es reicht jetzt, Doc«, sagte Laurenti und warf deutlich hörbar sein Besteck auf den Teller. Er wandte sich an Ramses. »Ich kann für den alten Zyniker nur um Entschuldigung bitten. Ein schlechter Empfang, den wir hier bieten.«
    Laura trug die Teller ab und verzog sich in die Küche.
    »Gibt’s keinen Nachtisch?« fragte Galvano. »Ja, die Medizingeschichte ist eine spannende Angelegenheit. Leider wissen die meisten Menschen nichts davon. 1912 hat man einem jungen Mann mit Hodenkrebs die Testikel ausgetauscht. In Amerika. Darauf setzte ein wahrer Eierhandel ein. Hodenzellen wurden gegen das Schwulsein übertragen, Ovarialgewebe gegen Nymphomanie. Ich hab einen ganz trockenen Mund. Wo ist der Wein?«
    »Sie haben genug getrunken, Galvano«, rief Laura aus der Küche, doch er tat so, als hätte er sie nicht gehört.
    »Natürlich gab es immer Immunreaktionen, und folglich wurden die Organe abgestoßen. Es war ein Wiener Bakteriologe, der das 1901 herausbekam, ab 1940 wurden dann immunologische Tests entwickelt, die einen gewaltigen Schub nach vorne brachten. Bedenkt doch mal, wo die Forschung heute ohne diese Vorläufer wäre, ihr Ignoranten. Und dann, jetzt paßt auf, 1954 schaffte Joseph Murray die erste geglückte Nierentransplantation. Eineiige Zwillinge mit identischem Immunsystem. Und wo war das? In Boston natürlich. Und wo wurde der alte Galvano geboren, der euch das alles erzählt? Auch in Boston natürlich. Und wo hat er seine Zeit verschwendet, statt ein angesehener Transplanteur zu werden? In Triest natürlich. Verdammt.«
    »Geben Sie es ruhig zu, Galvano: In Ihrem Keller haben Sie auch experimentiert. Frankenstein war doch nichts gegen Sie!« Laurenti zwinkerte Ramses zu, der blaß und mit leerem Blick am Tisch saß.
    »Schweig! Mit Toten macht das keinen Spaß. Es gibt natürlich auch die dunklen Seiten des Geschäfts. Schon in den zwanziger Jahren verwendeten amerikanische Chirurgen Organe von Hingerichteten oder Zuchthäuslern.

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