Tod den Unsterblichen
gähnte –
Gähnen? Gähnen!
Er blinzelte mit den Augen, die viel zu schwer waren, und versuchte, den schrecklich müden Kopf zu drehen. Gähnen! Und das nach zwei Wachhaltetabletten – oder waren es drei oder sechs?
Die Geschichte wiederholte sich!
Die roten Tabletten waren zum Wachhalten, die grünen zum Schlafen. Die grünen Tabletten, schluchzte er innerlich, er hatte die grünen genommen! Es hatte ihn erwischt.
O Gott, jammert er lautlos – o Gott, warum diesmal? Warum hast du darauf gewartet, mich zu erwischen, bis ich liebte?
9.
Der Audio-Assistent starrte versonnen durch die Scheibe in das Aufnahmestudio und summte vor sich hin. Es irritierte Master Carl. Er konnte nicht umhin, der Melodie den passenden Text hinzuzufügen:
Wenn man die zweiten, dritten, fünften Zahlen streicht,
Hat man das Sieb des Eratosthenes erreicht!
Vielfache muß man so vertreiben:
Primzahlen werden übrigbleiben.
Es milderte seinen Ärger nicht, daß er selbst das Lied verfaßt hatte. Die klassische Darstellung der Primzahlen war nicht das Thema dieser Vormittagsvorlesung, sondern die Mengentheorie. Er schnauzte: »Mensch, seien Sie still! Oder gefällt Ihnen die Arbeit hier nicht?« Der Audio-Assistent erbleichte. Er war auf einem Texas aufgewachsen und hatte niemals vergessen, daß er eines Tages vielleicht wieder dorthin zurückkehren müßte.
Es stimmte nicht ganz, daß das Summen ihn ablenkte. Master Carl trat genau in dem Augenblick auf, in dem sein Thema anfing, und sagte die Worte, die er immer sagte, während er mit seinen Gedanken bei Cornut war, bei den Wolgrenschen Anomalien, bei seinen privaten Forschungen über das Paranormale, bei – besonders bei den Antworten und Verhaltensweisen jedes einzelnen Studenten seines Studio-Auditoriums. Er bemerkte jedes Gähnen eines schläfrigen Nuklear-Studenten in der äußersten Ecke; er beobachtete besonders aufmerksam den heimlichen Zettelaustausch zwischen diesem Jungen, Egerd, und der neuen Frau seines Schützlings, Locille. Er hatte nicht vor, etwas dagegen zu unternehmen. Er war Locille dankbar. Wie ein guter Wachhund konnte sie wahrscheinlich dem einzigen Mann der Fakultät, dem Carl die Möglichkeit einräumte, ihn je zu ersetzen, das Leben retten.
In fünf Minuten hatte er den Life-Teil seiner Vorlesung beendet und verließ, seinen harmlosen Wünschen nachgehend, das Studio. Auf dem Bildschirm hinter ihm tanzten aufgezeichnete Figuren und sangen Die Ballade der Mengen:
Das »S« für eine Menge steh,
in der zwei Elemente (a und b)
und deren Summen sich befinden.
Hier brauchen wir uns nicht zu schinden
mit der Verknüpfungsop’ration;
schon abgeschlossen die Aktion.
Der Lehrsatz ist nun klar uns schon:
Assoziativ verknüpft ist »S« durch Addition.
Er verbannte das Seminar aus seinen Gedanken und holte eifrig den Stapel aus seiner Mappe. Er hatte heute nacht unruhig geschlafen und war früh aufgestanden, um sich seinem neuesten Hobby zu widmen. Er hatte viele. Er brauchte viele. Carl war keineswegs unzufrieden, konnte sich keine Welt vorstellen, in der er kein Mathematiker gewesen wäre, aber es war alles andere als ein Vergnügen, eine ehrwürdige Autorität in einem Spiel für junge Männer zu sein. Es war eine merkwürdige Tatsache in der Mathematik, daß fast alle großen Mathematiker ihre beste Arbeit leisteten, ehe sie dreißig waren. Und die meisten von ihnen hatten sich, wie Carl, in ihren späteren Jahren anderen Interessengebieten zugewandt.
Jemand öffnete die Tür, und der Chor aus dem Studio brandete herein:
Ist abgeschlossen »M« durch Subtraktion.
Bestimmt ein Modul hier den Ton.
Master Carl drehte sich stirnrunzelnd um. Egerd! Er fragte donnernd: »Was ist eine Teilmenge, die mit einer Multiplikation abgeschlossen wird?«
Egerd zuckte zwar zusammen, sagte aber: »Ein Vektor, Master Carl. Es steht in der vierten Strophe. Sir, ich möchte …«
»Sowohl mit einer Addition als auch mit einer Subtraktion abgeschlossen?«
»Eine zyklische Gruppe, Sir. Kann ich Sie einen Augenblick sprechen?«
Carl brummte.
»Wie Sie sehen, habe ich meine Lektion gelernt, Master Carl.«
Er hätte noch mehr gesagt, aber Carl blieb streng. »Das ist keine Entschuldigung, Egerd, ohne Erlaubnis das Seminar zu verlassen. Das mußt du wissen. Es mag dir zwar so vorkommen, daß du imstande bist, die Mengentheorie zu begreifen, indem du Bücher studierst. Aber da irrst du dich. Ein Mathematiker muß diese einfachen
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