Tod den Unsterblichen
solchen Zeit wie dieser auf die weise hilfreiche Hand eines älteren Freundes zurückgreifen zu dürfen. Er brauchte sich nicht den Kopf zu zerbrechen, wie er sterben sollte und ob er es verpfuschte. Er brauchte St. Cyr und den anderen doch nur eine Chance zu geben. Sich entspannen … schläfrig werden … vielleicht noch etwas betrunkener werden. Sie würden schon das übrige besorgen.
»Das Sieb des Eratosthenes erreicht«, sang er fröhlich. »Vielfache muß man so vertreiben: Primzahlen werden übrigbleiben!« Er torkelte zu seinem Bett und warf sich der Länge nach darauf.
Kurz darauf stand er wütend wieder auf. Das war nicht fair. Warum sollte er, wenn es ihm schwerfiel, in seinem Zimmer eine geeignete Todesart zu finden, diese Schwierigkeit auf seinen guten Herrn und Gebieter St. Cyr abwälzen?
Er war deswegen richtig böse auf sich; aber nachdem er die Flasche ergriffen hatte und singend auf den Korridor getaumelt war, um nach einem geeigneten Ort zum Sterben zu suchen, ging es ihm allmählich immer besser.
Sergeant Rhame prüfte die Barrikaden vor dem Lager der Ureinwohner und ließ seine Männer zurück, um die Menschenmenge vor der Universität möglichst im Zaum zu halten. Während der ganzen Zeit, in der seine Männer daran gearbeitet hatten, versuchten die Ureinwohner, in ihrem Pidginenglisch mit ihnen zu reden, aber die Polizisten waren zu beschäftigt. Der einzige, der einigermaßen englisch sprach, Masatura-san, war in seiner Hütte; die anderen waren kaum zu verstehen. Rhame schaute auf seine Uhr und entschied, daß er sich schnell eine Tasse Kaffee gönnen könnte, ehe er seinen Männern mit der Menschenmenge half. Obwohl es, dachte er, vielleicht humaner wäre, die Menschenmenge in Ruhe zu lassen, damit sie sich zur Hälfte zu Tode quetschte. Das ginge wenigstens schnell. Denn der Gerichtsarzt hatte ihm vertraulich mitgeteilt, daß die Impfungen wirkungslos blieben … Er drehte sich erstaunt um, als eine Mädchenstimme ihn rief.
Es war Locille, die weinte. »Können Sie mir nicht bitte helfen? Cornut ist verschwunden, und mein Bruder ist tot, und – das habe ich gefunden.« Sie hielt ihm Cornuts säuberlich niedergeschriebene Liste der Selbstmordmöglichkeiten hin.
Die Tatsache, daß Rhame von seinen Computerstudien abgeordert worden war, um eine aufgebrachte Menschenmenge im Zaum zu halten, bewies zur Genüge, wohin er eigentlich gehörte; aber er zögerte und wußte weder aus noch ein. Individuelles Elend war wesentlich überzeugender als Massenpanik. Er stellte die notwendigen Fragen: »Wo ist er? Keine Ahnung? Keine Zettel? Irgendwelche Zeugen, die ihn vielleicht fortgehen sahen? Sie haben nicht gefragt? Warum …« Aber er hatte keine Zeit zu fragen, warum sie keine Zeugen gefragt hatte; er wußte, daß jeder Augenblick, in dem Cornut allein war, höchstwahrscheinlich der Augenblick seines Todes sein konnte.
Sie fanden den nervösen und zerstreuten Studentenproktor, der jedoch noch auf seinem Posten war. Und er hatte Cornut gesehen!
»Ich hielt ihn irgendwie für übergeschnappt. Ich versuchte, ihm etwas zu sagen – Sie kennen doch Egerd, der früher in seinem Seminar war?« (Er wußte genau, wie gut Locille Egerd gekannt hatte.) »Er ist heute morgen verstorben. Ich dachte, das würde Master Cornut interessieren, aber er hörte überhaupt nicht zu.« Rhame beobachtete Locilles Gesichtsausdruck, aber er hatte keine Zeit, sich um ihre Gefühle für einen toten Studenten zu kümmern. »Wohin ist er gegangen? Und wann?«
Er war vor einer guten halben Stunde den Korridor entlanggegangen. Sie folgten ihm.
Locille sagte klagend: »Es ist ein Wunder, daß er überhaupt noch am Leben ist! Aber wenn er es so lange ausgehalten hat … und ich ein paar Minuten zu spät käme …«
»Halten Sie den Mund«, sagte der Polizist schroff und rief einen anderen Studenten zu sich.
Es war leicht, Cornut zu folgen; er war durch sein irres Benehmen aufgefallen, sogar an einem Tag wie diesem. Ein paar Meter vor der Fakultätsmensa hörten sie heiseres Gegröle.
»Das ist Cornut!« rief Locille und rannte los. Rhame holte sie bei der Tür der Küche ein, in der sie so viele Monate gearbeitet hatte.
Cornut torkelte herum und grölte lallend eines von Master Carls Lieblingsliedern:
»Knüpf Restklaß’ zum Modul
und schließ dann den Pool
für Addition, Subtraktion …«
Er stolperte gegen einen Aufschneidetisch und fluchte gutmütig.
»… so find’st du zum Lohn
ein neues
Weitere Kostenlose Bücher